Hamburg: Matthäus-Passion

Staatballett Hamburg, Aufführung am 15.04.2017

Choreografie John Neumeier

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Vor beinahe 17 Jahren brachte das Hamburg Ballett John Neumeiers Choreografie „Skizzen zur Matthäus-Passion“ in der St.Michaelis-Kirche Hamburg zur Uraufführung, Ein halbes Jahr später folgte dann die Uraufführung des gesamten Werks an der Staatsoper – und seither blieb diese enorme Schöpfung im Repertoire der Compagnie, wurde immer wieder (logischerweise) mit neuen Tänzerinnen und Tänzern neu einstudiert. Man merkt weder der Choreografie von John Neumeier noch der Musik Bachs (die ja nochmals 300 Jahre älter ist) ihr Alter an, beide sind von einer tief berührenden Zeitlosigkeit. Neumeier hat nämlich zur Umsetzung der Leidensgeschichte Christi nicht einfach zu einer 1:1 Bebilderung der vom Evangelisten erzählten Vorgänge gegriffen, sondern die Wirkung der Worte auf junge Menschen untersucht und analysiert.

Und gerade eben damit die erwähnte Zeitlosigkeit hergestellt. Dabei hat er nach eigene Aussagen den Tänzerinnen und Tänzern auch immer wieder Freiräume geschaffen, um ihre eigenen Reaktionen und Empfindungen auf das Gehörte auszudrücken – und ist damit ganz nahe beim sakralen Tanz angelangt, der im christlichen Glauben nicht mehr so präsent, bei vielen nicht monotheistischen oder Naturreligionen jedoch immer noch sehr präsent ist. In diese MATTHÄUS-PASSION fliessen solche Elemente der Wut und der Versöhnung, der spastischen Verzückung, des religiösen Rausches, der Verklärung und Verblendung, der Ekstase und der tief empfundenen Trauer immer wieder ein.

Neumeier ist wie stets auch sein eigener Bühnenbildner und Ausstatter. Der Bühnenraum ist schwarz, im Hintergrund führen drei Stufen zu einer Plattform, auf der sich die grosse Compagnie (42 Tänzer) auf schwarzen Hockern und Bänken gruppiert, von dort aus das Geschehen auf der Vorderbühne mit einer unglaublichen, individuell ausgestalteten Präsenz beobachtet, eingreift, und gleich eines antiken Chores kommentiert. Dabei schlüpfen sie in verschiedene Rollen, einzig Jesus wird von Anfang bis zum Ende von einem einzigen Tänzer dargestellt: Marc Jubete tanzt und interpretiert ihn mit einer unaufdringlichen, aber tief bewegenden Schlichtheit, evoziert dabei ein gewaltiges Mitleiden, vermag aber immer auch die tröstliche Botschaft des festen Glaubens zu transportieren. Und genau dies schafft Neumeier mit seiner wunderbaren Compagnie eben auch: Es geht um die christlichen Werte, die auch ein Nichtgläubiger akzeptieren und leben kann und soll: Nächstenliebe, Toleranz, Akzeptanz, Vergeben und Verzeihen, Aussöhnung unter Feinden. Dies alles findet Niederschlag in einer faszinierenden Choreografie, umgesetzt mit nie nachlassender tänzerischer Präzision, mit bewundernswerter Ausdauer, Kraft und manchmal fast kindlicher Freude.

Das alles ist wunderbar stimmig und kommentierend zur Musik Bachs und den Texten der Passion umgesetzt, in keinem Moment bekommt man den Eindruck von Passionsspielen à la Oberammergau oder von Hollywood-Kitschverfilmungen, denn Neumeier belässt die Menschen in den weissen, schlichten Kleidern, verzichtet auf jegliche Requisiten, wenn einmal eine Szene oder ein Gegenstand verortet werden soll, behelfen sich die Tänzer mit ihren Körpern oder den paar Bänken. Also keine Dornenkrone, keine Peitschen, kein Blut. Und trotzdem fährt die Szene der Demütigung Christi (zum Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“) dermassen ein, dass es kaum mehr auszuhalten ist. Es gäbe von vielen berührenden und packenden Momenten zu berichten, Höhepunkte des eindringlichen Abends waren für mich die Analyse der Beziehungen zwischen Judas und Jesus, zwischen Jesus und Petrus, der Pas de trois zur Bassarie „Komm süsses Kreuz“, das Alt Solo „Ach Golgatha, unsel’ges Golgatha“, das Sterben Jesu am Kreuz (welch unglaubliche Leistung des Tänzers Marc Jubete!) Immer wieder ging auch das Licht im Zuschauerraum an, die Tänzerinnen und Tänzer traten durch die Gänge und Seitentüren ab, trugen so auch dazu bei, uns ins Bewusstsein zu rufen, dass uns das alles etwas angeht (angehen sollte). Diese Lichtwechsel sorgten auch für eine willkommene Strukturierung des langen Abends, denn den Blick während Dreieinhalb Stunden auf eine schwarze Bühne mit weiss gekleideten Menschen zu fokussieren, ist doch recht anstrengend. Doch die Besucher harrten gebannt und sehr aufmerksam mitgehend und -fühlend aus und belohnten die Ausführenden nach vier Stunden (das dürfte eines der längsten Ballette im Repertoire sein) mit einer verdienten Standing Ovation.

John Neumeier hatte 1980 bei der Erarbeitung seiner Choreografie eng mit dem Dirigenten Günter Jena zusammengearbeitet. Und so erklang in der Staatsoper Hamburg die Musik in einer Live-Aufnahme aus der St.Michaelis-Kirche vom 29. März 1980, mit Peter Schreier, Bernd Weikl, Mitsuko Shirai, Marga Schiml und Franz Grundheber, sowie den Knabenchören Hannover und St.Michaelis, dem St.Michaelis-Chor und -Orchester.

Bilder (c) Kiran West / Hamburgische Staatsoper