Maribor: „Samson und Dalila“

15. 5. 2016 (2. Vorstellung nach der Premiere am 13. 5. 2016)

Gefällige Bilder und große Stimmen

Die letzte Premiere dieser Saison galt in Marburg dieser Oper von Camille Saint-Saëns – es war seine einzige erfolgreiche, obwohl er immerhin acht Opern geschrieben hatte. Das über Vermittlung von Franz Liszt in Weimar 1877 – in deutscher Sprache – uraufgeführte Werk erlebte erst im Jahre 1890 in Rouen seine französische Erstaufführung. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde diese Oper weltweit an allen bedeutenden Opernhäusern gespielt – aber nach dem 2.Weltkrieg gab es in unseren Breiten immer weniger szenische Aufführungen. In Graz gab es 1962/63 eine Aufführungsserie, im Jahre 1988 konnte man Samson und Dalila (mit der großen slowenischen Mezzosopranistin Marjana Lipovsek und Carlos Cossutta) bei den Bregenzer Festspielen erleben und an der Wiener Staatsoper gab es 1990 eine Produktion mit Agnes Baltsa und Placido Domingo, in der man später unter anderem auch Marjana Lipovsek und José Carreras hören konnte. In Slowenien gab es bisher die einzige szenische Aufführung im Jahre 1898 in Ljubljana – eine konzertante Aufführung folgte erst 2007. Es war also durchaus an der Zeit, dieses Werk dem slowenischen Opernpublikum zu präsentieren. Samson und Dalila kann man immer dann auf den Spielplan setzen, wenn man zwei überzeugende Protagonisten für die Titelpartien hat – und Marburg hat diese beiden Persönlichkeiten:

Der französische Tenor Jean-Pierre Furlan blickt auf eine über 25-jährige erfolgreiche Bühnenkarriere und hat sich als ein intensiver Gestalter tragischer Heldengestalten profiliert – zuletzt war er Otello und Eléazar, aber auch Canio auf belgischen und französischen Bühnen. In Marburg erlebte man ihn im Jahre 2013 als eindrucksvollen zerrissenen Don José. Jean-Pierre Furlan vermittelt uns einen stimmlich kraftstrotzenden Helden, der darstellerisch glaubhaft zwischen seiner ihm von Gott auferlegten Bestimmung als Volksführer und der inneren Zerrissenheit des den Verführungen Dalilas erliegenden Mannes schwankt. Seine Stimme verfügt mühelos über alle Spitzentöne und über die nötige dramatische Attacke. Im Vordergrund seiner stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten stehen die heldische Kraft und die Verzweiflung – Pianos und lyrisch-zarte Phrasen werden dem heldischen Material zwar technisch sicher abgetrotzt, bleiben aber ohne warmen und belkantesken Wohlklang. Er überzeugt durch seine Intensität in einer statischen Inszenierung – jedenfalls eine überzeugende Interpretation auf hohem Niveau.

Die Frau, die den Helden – gemeinsam mit den Mädchen ihres Gefolges – umgarnt und verführt, ist die noch nicht 30-jährige Argentinierin Guadelupe Barrientos. Sie leistet Erstaunliches! Die Regie und die Choreographie haben ihr ausnehmend harmlos-biedere Tänzerinnen beigegeben. In der 6.Szene des 1.Aktes lautet im Libretto die Szenenanweisung für den Tanz der Priesterinnen: Die jungen Mädchen in Dalilas Gefolge tanzen und bewegen anmutig ihre Blumengirlanden, womit sie die hebräischen Krieger um Samson zu reizen scheinen. Samson, leidenschaftlich erregt, versucht vergeblich, Dalilas Blicken auszuweichen. Widerstrebend folgen seine Augen allen Bewegungen der Verführerin, die inmitten der jungen Philisterinnen mit sinnlichen Posen und Gebärden tanzt. Das sieht in dieser Inszenierung so aus:

Sechs Ballett-Damen in schwarzen Umhängen stehen in Fensteröffnungen und bewegen die Arme in rhythmischen Gesten. Dalila sitzt inmitten der Chordamen – die vom Stück intendierte „erotische Umgarnung“ (Programmheft) wird nicht sichtbar – und sie ist dennoch präsent! Guadelupe Barrientos – so gar nicht der Typ eines Pin-up-oder Glamour-Girls! – stimmt an ihr „Printemps qui commence“ – und bestrickt allein mit ihrer Stimme. Plötzlich vergisst man das gänzlich undramatische Bühnenarrangement und hört gebannt zu. Das ist eine absolut sicher geführte, große und ein wenig kupfern-metallisch wirkende Stimme, die große Legatobögen ohne Anstrengung zu spannen versteht, nie forciert und den Raum auch im Piano und im Mezzoforte mühelos füllt. Man hatte die junge Argentinierin schon 2013 und 2014 in Marburg als vielversprechende Amneris, aber auch als köstliche alte Tante in Gianni Schicchi, als bedrohliche alte Fürstin in der Suor Angelica und als Isabella in Rossinis „L’Italiana in Algeri“ gehört und ihr eine internationale Karriere prophezeit. Inzwischen hat sie bereits am Teatro Colon die Santuzza gesungen und man freut sich, dass man sie nochmals für Marburg gewinnen konnte. Zu ihren stimmlichen Qualitäten kommt eine starke Bühnenpräsenz – ohne jede Peinlichkeit vermag sie mit einigen wenigen großen Gesten die jeweilige Situation zu charakterisieren und verkörpert damit auch darstellerisch überzeugend eine sich schwach zeigende, dennoch willensstarke Frau und majestätische Priesterin.

War der 1.Akt bis zum Auftritt von Dalila musikalisch und szenisch doch recht konventionell und spannungsarm, so erlebte man dann plötzlich im 2.Akt lebensvolles Musiktheater. Die beiden zentralen Bühnenfiguren Guadelupe Barrientos und Jean-Pierre Furlan beherrschten durch ihre Persönlichkeiten das Geschehen. Dieser 2. Akt bringt nach der einleitenden großen Szene von Dalila „Amour! Viens aider ma faiblesse“ – großartig gesungen von Guadelupe Barrientos – die große Duettszene zwischen Samson und Dalila, in die der Ohrwurm der berühmten Kussarie Dalilas „Mon coeur s‘ouvre à ta voix“ eingebettet ist. Man konnte keine spezifische Personenführung durch die Regie erkennen. Alles war zwar solid arrangiert – nicht mehr. Aber vielleicht verschaffte gerade das den beiden Protagonisten den nötigen Freiraum, um durch intensive Stimmgestaltung und mit sparsamen Gesten das Drama glaubhaft zu gestalten. Im 2.Akt erwies sich die flexible Bühnengestaltung des überaus erfahrenen slowenischen Bühnenbildners und Designers Marko Japelj als äußerst praktikabel und wandlungsfähig. Die sich fast ständig bewegenden turmartigen Elemente ermöglichten sinnvolle Auftrittsmöglichkeiten, rasche Umbauten und vermittelten eine düster-bedrohliche Stimmung. Die historisierenden Kostüme des Italieners Artemio Cabbassi waren geschmackvoll, wenn auch die Unterschiede zwischen den Hebräern und den sie knechtenden Philistern wenig markant gestaltet waren. Der 3. Akt führt uns nach der Einleitung mit dem geblendeten und herumirrenden Samson in das Innere des Tempels. Hier entfernt sich die Inszenierung von den Vorgaben des Librettos (und der im Programheft enthaltenen, dem Original entsprechenden Inhaltsangabe). Aber es gelingt dem Regisseur Paul-Émile Fourny damit eine überzeugende und bildstarke Lösung. Schade ist allerdings, dass auch die zweite große Ballettszene (Choreographie: Laurence Anne-Marie Bolsigner May) in biederer Gefälligkeit stecken bleibt: das Bacchanal der Priesterinnen, zu dem Camille Saint-Saëns eine glutvolle, orientalisch nachempfundene Musik geschrieben hat, wird zum naiven Erntedank-Reigen, in dem Tänzerinnen Getreidegarben verteilen. Was diese Choreographie mit Titel „Bacchanal“ verbindet erschließt sich wahrlich nicht!

Aber der Schluss der Oper ist dann effektvoll gestaltet: Der blinde Samson wird zunächst unter ein großes Holzjoch gezwungen, verhöhnt, dann aus einer Opferschale mit Blut übergossen und letztlich zu dem im Hintergrund lodernden Feuer geführt. Samson wirft das Joch ab, wird aber mit Seilen an die Mauern des Tempels gebunden. Mit letzter Kraftanstrengung ruft Samson seinen Gott an: „Daigne pour un instant, Seigneur, me rendre ma force première!“, zerrt an den Seilen und bringt das gesamte Bühnenbild zum Einsturz, das alle unter sich begräbt – eine sehr eindrucksvolle und bühnenwirksame Schlussszene!

Der in Marburg schon aus vielen Inszenierungen bekannte Paul-Émile Fourny ist nicht nur der Regisseur des Abends – er ist auch der Koproduzent dieser Inszenierung, ist er doch der Intendant der Opéra de Metz, mit der Marburg auch diesmal wieder zusammenarbeitet und wohin diese Inszenierung in der nächsten Saison übersiedelt. Das Marburger Orchester wurde diesmal vom irisch-französischen Dirigenten Robert Houlihan geleitet – es war eine ordentliche, aber doch ein wenig gleichförmige und wenig profilierte Interpretation, die die klangliche und rhythmische Raffinesse des Werks nicht ausschöpfte. Man weiß, dass Camille Saint-Saëns das Werk ursprünglich als Oratorium geplant hatte – das merkt man speziell in den Akten 1 und 3, in denen der Chor große Aufgaben hat. Diese bewältigte der groß besetzte Marburger Chor (Einstudierung: Zsuzsa Budavari Novak) klangschön und stimmkräftig. Die Nebenrollen waren aus dem Marburger Haus besetzt: Jure Počkaj war stimmlich ein sehr guter, darstellerisch wenig profilierter Abimelek, Alfonz Kodrič ein eindringlicher alter Hebräer mit etwas ungehobeltem Bass und Jaki Jurgec ein stimmlich allzu leichtgewichtiger Oberpriester. Am Ende gab es im ausverkauften Haus viel Beifall – vor allem natürlich für Guadelupe Barrientos und Jean-Pierre Furlan – wegen dieser beiden Leistungen lohnt es sich unbedingt, diese Produktion zu besuchen!

Hermann Becke, 16. 5. 2016

Szenenfotos: SNG Maribor, © Tiberiu Marta