Pforzheim: „Tosca“

Premiere: 19. 9. 2014

Psychologie des Bösen

Mit einer gelungenen Neuproduktion von Puccinis „Tosca“ startete das Theater Pforzheim in die neue Saison. Betrachtet man sich den Inhalt der Oper einmal genauer, so merkt man schnell, welche große Aktualität der Stoff aufweist. Liebe und Eifersucht sind zeitlose Themen. Und Mord und Folter ist ebenfalls kein Thema von gestern, wie ein Blick auf die jüngsten schlimmen Ereignisse in Nahost zeigt. Es entspricht voll und ganz dem kulturpolitischen Auftrag der Theater – sowohl Schauspiel- als auch Opernbühnen -, auf derartige Missstände mit den Mitteln der Kunst hinzuweisen und dabei Kultur stets aufs Neue zu definieren. Operndirektor Wolf Widder, der jetzt in seine letzte Spielzeit geht, hatte Recht, wenn er in seiner Begrüßungsrede dieser Thematik einen breiten Raum einräumte. Da war zu merken, dass das schon oft bewährte Pforzheimer Theater durchaus eine moderne Gesinnung aufweist.

Niclas Oettermann (Cavaradossi), Majken Bjerno (Tosca)

Demgemäß nähert sich Regisseurin Bettina Lell Puccinis Drama auch nicht von einer überholten historischen Seite aus, sondern setzt den Focus ihrer Interpretation gekonnt auf allgemein gültige Aspekte der tragischen Handlung. Nichts liegt ihr ferner, als einen irgendwie gearteten pompösen Ausstattungszauber zu betreiben. Über derartige Äußerlichkeiten ist sie erhaben. Vielmehr richtet sie ihr Augenmerk auf die vielfältigen realistischen Elemente der Geschichte, die nicht zeit- und ortsgebunden sind und heute ebenso gut vorkommen können wie zur Zeit Napoleons. Rein äußerlich betrachtet bringt die Regisseurin keine große Oper auf die Bühne, sondern eher ein Kammerspiel. Dies gelingt ihr auf sehr eindringliche und bedrückende Weise unter mannigfaltiger Einbeziehung Tschechow’scher Elemente. Mit hohem technischem Können und einer hervorragenden, spannenden und stringenten Personenregie – das war schon immer eine Stärke von ihr -, dringt sie unaufhaltsam bis zu Kern des Seelenlebens der Beteiligten vor und zeigt mit Nachdruck auf, wie die sich stetig ausbreitende maliziöse Atmosphäre immer stärker das Wesen der Protagonisten infiltriert und deren bösen Seiten an die Oberfläche dringen lässt. Neben dem jungen, ausgesprochen sadistisch veranlagten Narzissten Scarpia sind es auch die elegante Diva Tosca und der anscheinend der Bohème-Welt entsprungene Lockenkopf Cavaradossi, die unter Druck und Folter gänzlich ungewohnte Verhaltensweisen an den Tag legen.

Hans Gröning (Scarpia), Majken Bjerno (Tosca)

Es ist eine einfühlsame Psychologie des Bösen, die Frau Lell hier mit der ihr eigenen hohen Professionalität vorführt. Ihre Inszenierung dringt weit in seelenkundliche Gefilde vor. Ihr Scarpia würde sicherlich ein erstklassiges Versuchsobjekt für Lydia Benecke abgeben, deren Buch „Auf dünnem Eis“ seit einiger Zeit auf dem Markt ist und das der Regisseurin bekannt sein dürfte. Gleich der Psychologin und Autorin Benecke gelingt auch der Pforzheimer Regisseurin mit den Mitteln des Theaters der Nachweis, dass alle Menschen mitunter nur eine hauchdünne Schicht von brutalen Verbrechern trennt. Bei ihrem tiefen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele dürften auch die Lehren eines Richard von Krafft-Ebing Pate gestanden haben, insbesondere dessen „Psychopathia sexualis“, dem Standardwerk der Sexualpathologie. Die in diesem Buch aufgeführten komplexen Beziehungen zwischen Strafrecht und Psychiatrie hat Frau Lell anscheinend gewissenhaft studiert und in der Figur des Scarpia Gestalt annehmen lassen, der offenbar ein ausgesprochen kranker Charakter ist und demgemäß mehr Tiefgang an den Tag legt als es in so manch anderer Inszenierung des Stückes der Fall ist. Seine seelische Abnormität, die Kombination von Grausamkeit und Wollust, kann leicht auf andere übergreifen, auch auf die ursprünglichen Opfer seiner Taten. Das ist hier bei Tosca der Fall, die am Ende des zweiten Aufzuges gegenüber dem von ihr tödlich getroffenen Polizeichef den Spieß umdreht und jetzt ihrerseits den Sterbenden genüsslich quält. Das ist aber bereits purer Puccini und nicht Produkt des Modernen Musiktheaters. Man sieht: Auch hier haben wir es mit einem zeitlos gültigen Aspekt zu tun, der bereits zu einer Zeit bestand, in der Benecke und von Krafft-Ebing noch lange nicht das Licht der Welt erblickt hatten.

Niclas Oettermann (Cavaradossi), Majken Bjerno (Tosca)

Demgemäß wandelt sich auch die Ästhetik in Bettina Lells Inszenierung. Stellte der von Sibylle Schmalbrock – von ihr stammen auch die gelungenen Kostüme – entworfene Bühnenraum im ersten Akt noch einen konventionellen, dunkel ausgeleuchteten Kirchenraum dar, der auch für eine etwas traditionellere Produktion einen guten Rahmen abgegeben hätte, wurde man im zweiten Akt in einen reichlich nüchtern anmutenden, kargen und schmutzigen Kachelraum mit Waschbecken, Spiegel und Breitwandfernseher versetzt. Kein äußerer Prunk lenkt hier von den zwischenmenschlichen Beziehungen ab, die von der Regisseurin mit großer Akribie herausgearbeitet wurden. Dass Scarpia öfters mal das Objekt seiner Begierde Tosca mit einer kleinen Handkamera filmt, entspricht ganz seinem Krankenbild. So erscheinen während des gesamten Aktes immer wieder Filmaufnahmen Toscas auf dem Monitor. Augenscheinlich wurde sie von ihrem Peiniger auch schon privat und unbemerkt gefilmt. Gerade derartige Bilder sind es, die seine mentale Abartigkeit noch stärker zu Tage treten lassen. Und wenn Frau Lell im dritten Akt den ebenfalls gefangenen Hirtenknaben als junges Alter Ego Cavaradossis identifiziert – jedenfalls sind beide Handlungsträger ähnlich gekleidet und haben denselben Lockenkopf -, ist das bildhafter Ausdruck einer angesichts seines bevorstehenden Todes stattfindenden inneren Reise des Malers zurück in eine unbeschwerte Kindheit. Auch hier haben wir es mit einem existentiellen, gehaltvollen Regieeinfall zu tun, der zeigt, dass es der Regisseurin weniger auf letztlich belanglose Äußerlichkeiten ankommt als vielmehr auf eine gewissenhafte Beleuchtung des Innenlebens der beteiligten Personen. Dies ist ihr wieder einmal trefflich gelungen. Aber dass Frau Lell zu den ersten der Regiezunft gehört, weiß man ja schon lange.

Majken Bjerno (Tosca)

Auch gesanglich konnte man insgesamt zufrieden sein. Majken Bjerno war eine optisch und auch von ihrem impulsiven Spiel her ansprechende Tosca. Stimmlich blieben indes Wünsche offen. Zur Höhe hin nahm ihr in der Mittellage ausgewogen klingender Sopran einen manchmal etwas zu durchdringenden, spitzen Klang an. Hier hätte es etwas mehr an sinnlicher Rundung bedurft. Einen darstellerisch versierten und vokal mit kräftigem, gut sitzendem Tenor ansprechenden Cavaradossi gab Niclas Oettermann. Als Scarpia ging Hans Gröning voll in seiner Rolle auf. Er hatte sich Frau Lells Konzept bestens zu eigen gemacht und es schauspielerisch hervorragend umgesetzt. Auch stimmlich vermochte er mit seinem sonoren und ein vorbildliches appoggiare la voce aufweisenden Bariton für sich einzunehmen. Seine Leistung war die beste des Abends. Mit profundem Bass entsprach Spencer Mason dem Angelotti gut. Aber seine Aussprache des italienischen Textes war hier und dort nicht ganz richtig. Solides Baritonmaterial brachte Aykan Aydin für die kleine Partie des Sciarrone mit. Solide, die komischen Seiten seiner Rolle nicht aussparend, sang Cornelius Burger den Mesner. Reichlich flachstimmig präsentierte sich der Spoletta von Steffen Fichtner. Nichts auszusetzen gab es an Rigobert Störkles Schließer. Tobias Hörtig lieh seinen Knabensopran dem Hirtenknaben. Passabel der von Salome Tendies einstudierte Chor.

Majken Bjerno (Tosca), Hans Gröning (Scarpia)

Wie man es von ihm gewohnt ist, erbrachte GMD Markus Huber am Pult auch dieses Mal eine treffliche Leistung. Noch etwas verhalten beginnend vermochte er den musikalischen Spannungsbogen im Lauf der Aufführung immer mehr zu steigern. Bei aller zur Schau gestellten Dramatik wies sein von ausgeprägter Italianita und viel Gefühl geprägtes Dirigat aber auch Stellen mit schönem kammermusikalischem Anstrich auf. Die gut gelaunt aufspielende Badische Philharmonie Pforzheim hat seine Intentionen klangschön und routiniert umgesetzt.

Ludwig Steinbach, 20. 9. 2014
Die Bilder stammen von Sabine Haymann