Wunsiedel: „Maske in Blau“

Premiere: 20.8. 2015. Besuchte Vorstellung: 23.8. 2015

Operette ist keine Altersfrage – oder doch?

Otto Schneidereit, einer der großen Operettenkenner des 20. Jahrhunderts, dem wir einige wichtige Handbücher und Biographien ausgewählter Operettenkomponisten verdanken, merkte 1958 in seinem Operettenbuch an: „An jenem Tage, an dem der britische Botschafter in Berlin, Neville Henderson, die Worte niederschrieb: ‚Die deutsche Luftwaffe wächst weiterhin mit beunruhigender Schnelligkeit, und zur Zeit ist kein Ende dieses Wachstums abzusehen‘ […] – an jenem Tage, an dem im spanischen Bürgerkrieg Tausende von Freiheitskämpfern ihr Leben lassen mussten – an jenem Tage, dem 27. September 1937, brachte das Berliner Metropol-Theater eine Uraufführung heraus. Mit diesem Werk gelang es“, so Schneidereit, „der ‚Fratze in Braun‘ sich eine ‚Maske in Blau‘ vorzubinden. Dieses Werk verband in raffinierter Weise den eleganten Kitsch einer lebensfremden Handlung derart mit modernen, schmissigen, sogar mitreißenden Rhythmen, dass die Musik auch heute noch unentwegt im Rundfunk erklingt und allerorts bekannt und beliebt ist.“ Fred Raymonds, Heinz Hentschkes und Günther Schwenns Werk sei „die deutlichste Ausprägung jenes Zweiges der Operette, der das Bild des Menschen entmenschlichte und verzerrte.“ Verzerrung? Beruht, mag der Laie denken, nicht jede Operette auf (freundlichen) Verzerrungen? Schneidereit entdeckte hier ein neues Element: einen „faulen Zauber“, der die Menschen „mit ihren Freuden und Leiden, mit der Vielgestaltigkeit ihrer Empfindungen nur als Schablonen inmitten einer Kitschpostkartenwelt“ darstelle. Und weiter: „Plumpe Erotik wurde dem Publikum als Beispiel echten Gefühlslebens suggeriert, der törichte Ablauf der Handlung als ‚farbiger Abglanz des Lebens’“. Mit anderen Worten: die Operette ist ein Machwerk mit einer Musik, der man, wenn auch widerwillig, gewisse Qualitäten nicht absprechen kann. Das Stück aber bleibt, so die strenge Meinung des Kritikers, ein schlimmer Unsinn.

Heinz Hellberg, der Direktor der Wiener Operettenbühne, die zum wiederholten Mal auf der Luisenburg gastiert und bei der Maske in Blau auch Regie geführt hat, sieht es vielleicht ähnlich, formuliert es aber – gegenüber dem ausverkauften Nachmittagshaus, in dem sich fast ausschließlich die Generation der Kriegskinder zusammengefunden hat – ausgesprochen positiv: Die Operette sei ein modernes Märchen. Man kann’s bekanntlich auch anders sehen – aber wer auf die Luisenburg kommt, erwartet keine kritischen Deutungen und keine „Regiekonzepte“. Er erwartet „tolle Sänger“, ein „hohes“ und ein „niedriges“ Paar, ein schönes Tanzensemble (fesche Madln und Jünglinge aus Wien), hübsche Kostüme, ein paar Witze, ein paar mehr oder weniger gewichtige Konflikte, einen Schuss Exotismus und „schöne Musik“. Die wird ihm auch in diesem Jahr – obwohl Raymonds Werk längst nicht die musikalische und humoristische Qualität der letztjährigen Zirkusprinzessin besitzt – auch geboten. Die Schlager heißen Maske in Blau, Die Juliska, die Juliska – und (die große Nummer für den Tenor) Schau einer schönen Frau nicht zu tief in die Augen. Man tanzt den Frühling in San Remo und besingt das Temprament – und der Schluss ist eine große Shownummer mit allen Beteiligten, denn Raymonds Operette ist eine „Ausstattungs-Operette“ in 8 bzw. (so legen es die Aufführungsmaterialien fest) 6 Bildern, aus denen man vier gemacht hat, denn es reicht völlig aus, dass die Grauen dreimal auf die Bühne schwirren.

Man spielt das Stück, weil es schöne sentimentale Nummern für Sopran und Tenor hat und in den „komischen“ wie schnellen Nummern Foxtrott und Machiche, Csárdás und Swingfox ins Stück bringt. Karl-Heinz Siebert, der Werkartikelautor, spricht in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters von einer „farbenreichen Partitur“, von „Spannungsfeldern“, die „aus der Polarität von melodramatischer Großflächigkeit und origineller Schlagermelodik und -rhythmik heraus entstehen.“ Nun ist das gewiss nicht originell, denn – da muss man nur ins letzte Luisenburgjahr schauen – auch die ältere Zirkusprinzessin weist ja diese „Spannungsfelder“ auf: zwischen 20er-Jahre-Tänzen und sentimentalen Liedern und Duetten. Kein Wunder, dass auch Siebert angesichts der Dramaturgie, die nur allzu vertraut ist, und die im „tragischen“ Finale des 3. Bildes nur mehr einen Abklatsch eines älteren Modells bildet, der sich einer rechten Banalität verdankt (da wird ein Verlobungsring vom störenden und eifersüchtigen Dritten absichtlich vertauscht und dem Liebhaber zurückgegeben) – kein Wunder, dass der Artikelschreiber nicht verhehlen kann, dass es „nicht gelang, das Libretto einer gewissen Klischeehaftigkeit der Konflikte zu entziehen.“

Nun spielt man die Operette gewiss nicht aufgrund ihres Librettos – und die Schauwerte, die da beschworen werden, erhalten in der Ausstattung auf der Luisenburg keine besondere Nahrung. 10 über die Felsen drapierte blaue Masken, ein paar Versatzstücke und zweidimensionale Kakteen, zwei Eingänge links und rechts, ein schlichtes „Maleratelier“ mit ein paar mehr oder weniger geschmacksfreien „Kunstwerken“ – das ist es dann schon. Aber die 1700 Besucher kommen ja wegen der Musik, dem Tenor, dem Sopran, dem komischen Paar und den Ballettmäusen. Immerhin hier werden sie gut bedient. Wer die langen, relativ pointenfreien Dialoge überstanden hat – sie werden übrigens vom guten, dankbaren Publikum ebenso honoriert wie die Musiknummern -, bekommt ein paar schöne Nummern serviert, die von den Profis des Operettentheaters kredenzt werden. Was schert einen die schlichte Geschichte um den Maler Armando Cellini und seine Muse Evelyne Valera, um die billige Intrige des chauvinistischen Pedra dal Vegas‘, dem es kurz gelingt, das Paar, das sich da – o Operettenwunder! – in Liebe gefunden hat, auseinanderzubringen? Was kümmert einen die durchschaubare Dramaturgie, wenn man Sängerpersönlichkeiten wie Csaba Fazekas und dem Operetten-Vollweib Elena Schreiber bei der Arbeit zuschauen und -hören darf?

Fazekas ist der vollkommene, aber nicht abgeschmackte Operettentenor: schlank, gut aussehend, beweglich, auratisch – und mit einer spannungsvollen Höhe und Stärke gesegnet, die aus seiner „großen Nummer“ Schau einer schönen Frau mehr macht als eine banale Operettenweisheit. Man muss nicht gleich von „realistischem Musiktheater“ reden, wenn man derartige Lieder in derartig stilsicheren wie ernsthaften Interpretationen hört. Unversehens wird klar, dass selbst im „Kitsch“ der Liedtexte einer nicht sonderlich avancierten Operette, die gerade mit den (ideologisch problematischen) Revuefilmen der Nazizeit konkurriert, tiefe Wahrheiten stecken: selbst im Zeitalter der sog. Emanzipation, der Beziehungsberater und -gestörten. Dazu passt, dass auch Elena Schreiber als Plantagenbesitzerin Evelyne Valera den modischen und durchaus nicht tiefsinnigen Typus der Grand Dame stimmlich überzeugend verkörpert: ohne Exaltiertheit, aber mit schönem Ansatz und vitaler Höhe.

Was wissen die 1700 Kriegskinder von diesen Wahrheiten? Vermutlich mehr als ein jüngeres Publikum. Schön ist ja schon der Beifall (Beifall!), den sie dem Paar, das sich da endlich in der Umarmung gefunden hat, deutlich zollen, wenn die Beiden sich küssen. Applaus für einen Bühnenkuss – eigentlich ist das doch wunderbar…

Applaus erhält natürlich auch wieder das Lustige Paar, auch der Intrigant. Der Prinzipal Heinz Hellberg spielt ihn selbst: mit wunderbarer ironischer Verve eines echten Macho, der die gewiss nicht ernstgemeinten Unmutsbekundungen des weiblichen Publikums mit lässiger Geste scheinbar mürrisch von sich weist. Das ist lustiger als alle Witze, die David Hojsak als Petrijünger Franz Kilian von sich geben muss (doch ist der junge Mann sympathisch genug, um die blöden Witze fast vergessen zu machen). Alexander M. Helmer, ein sehr guter Bariton, mimt den eher derben Lebemann „Seppl“, zu dem die leicht präpotente Juliska Varady in Gestalt der quicken Soubrette Susanne Hellberg trefflich passt. Charleston-Stimmung!

Bleibt der Majordomus Gonzala, der mit Urs Mühlenthaler eine – nun ja: leicht bizarre Erscheinung gefunden hat, die freilich vom Publikum geliebt wird. Aber was für eine monströse Bauchbinde…

Also Schwamm drüber über die Kostümgestaltung Lucya Kerschbaumer s, die sich nicht entscheiden kann, ob sie das Stück in den 20ern, zur Entstehungszeit 1937 oder in irgendeinem Fernsehballettzeitalter spielen lassen möchte. Dass Csaba Fazekas im letzten, südamerikanischen Bild das Oberteil trägt, das Placido Domingo als Lohengrin an der Wiener Staatsoper trug: es ist zum einen bewegend, zum anderen typisch für die Bedingungen, unter denen die ästhetische Gestaltung vor sich ging: mit ausgemusterten Teilen, die sichtbar nicht zusammenpassen.

Dafür bietet das schneidig aufspielende Orchester unter der Leitung László Gyükérs eine höchst gelungene Big-Band-Melange aus Alt und Neu: die Bläser röhren, das Schlagzeug blecht, die Streicher singen – und das von Enrico Juriano choreographierte, zehnköpfige Ballett-Ensemble (von dem man jedes einzelne Mitglied nennen müsste) bietet eine hübsche Show, die weder zu primitiv noch zu ausgefallen ist. Es erfreut die Augen aller Besucher: der weiblichen und der männlichen.

Vielleicht ist Operette ja doch keine Altersfrage – zumindest keine Senioren-Angelegenheit, für die sie, bisweilen leider mit nachvollziehbaren Gründen, genommen wird.

Frank Piontek, 24.8. 2015

Fotos: Luisenburg-Festspiele / © Stefanie Althoff und Frank Piontek