Zürich: „Nijinski“

Vorstellung am 09.03.2019

Schweizer Erstaufführung und Zürcher Neufassung

Vaslav Nijinski war und ist der Tanzgott schlechthin, der Wegbereiter für den männlichen Ausdruckstanz, der Star, der sensible Künstler – und Jan Casier, der im Opernhaus Zürich in Marco Goeckes Ballett den Nijinski tanzt, ist der göttliche Mittelpunkt eines exzeptionellen, tief bewegenden Ballettabends. Casier verkörpert den hochsensiblen Tänzer mit jeder Faser seines Körpers. Dank Goeckes einmaliger, unverwechselbarer Tanzsprache, die vor allem durch rasante Arm- und Handbewegungen lebt, auf Sprünge verzichtet, dafür die Musik durch alle Sehnen und Gelenke geradezu fliessen lässt, entsteht ein fiebrig faszinierendes Porträt nicht nur des Ausnahmetänzers Nijinski, sondern ein Künstlerporträt mit Allgemeingültigkeit – ein Brennen FÜR die Kunst und ein Verbrennen der Seele AN der Kunst. Dabei wählt Goecke nicht einfach den Weg der biografischen Nacherzählung, diese handelt er in seiner Choreografie innerhalb einer knappen Minute durch die Person des Textes (wunderbar gesprochen und getanzt von Mark Geilings) mit ins Mikrofon gehauchter Biographie ab (man tut gut daran, sich als Vorbereitung auf den Besuch der Aufführung das Programmheft zuzulegen oder im Internet den biografischen Weg Nijinskis nachzulesen).

Goecke wählt wichtige Stationen aus dem Lebensweg Nijinskis aus, führt sie in eine Art dreiteilige Form. 1. Teil: Das Wesen der Kunst des Tanzes (der Tänzer sucht gesichtslos nach körperlichen Ausdrucksformen, er und Diaghilew werden von der Muse Terpischore geküsst) 2. Teil: Nijinskis künstlerisches und sexuelles Erwachen (die starke Mutterbindung, die Hassliebe zu Diaghilew, der ihm aber auch den Weg zum Ruhm ebnet und ihn künstlerisch zu tänzerischen und choreografischen Höchstleistungen puscht, die Homosexualität, die Begegnung mit seiner Ehefrau Romola). 3. Teil: Der tiefe Fall (Verdunklung des Geistes, Schizophrenie, 30 Jahre Sanatorien und psychische Experimente, das Dahindämmern des Lebens). Dies alles gewinnt im schlichten, schwarzen Bühnenbild und mit den ebenso schlichten Kostümen in Schwarz, Weiss und Rot von Michaela Springer und der gekonnt fahlen Lichtgestaltung von Udo Haberland eine Intensität, eine Spannung und eine Tragik, der man sich nicht entziehen kann. Die 90 Minuten vergehen wie in einem albtraumhaften, fiebrigen Flug des Geistes und der Seele. Das Ballett Zürich setzt die komplexe Körper- und Tanzsprache Goeckes mit einer verblüffenden Präzision und Selbstverständlichkeit um, die einen staunen lässt. Einmalig das Spiel der Hände, das perfekt austarierte motorische Schwingen der Arme, die abgehackten Bewegungen und Winkel der Gelenke – und dies immer mit fantastischer Kongruenz zur Musik. Ja, diese Musik ist wahrhaftig treffsicher ausgewählt und wird von der Philharmonia Zürich (gottseidank wird live musiziert) unter der Leitung von Pavel Baleff herausragend gespielt. Beide Klavierkonzerte Chopins, unterbrochen von einem russischen Wiegenlied (das durch die ständige Repetition wie minimal music klingt) und Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune. Am Flügel begeistert Adrian Oetiker mit einer herrlich zupackenden, virtuosen Interpretation des Soloparts in den Chopin-Konzerten, wunderbar filigran und gefühlvoll in den langsamen Sätzen.

Sinnvollerweise bricht die Musik am Ende bei Nijinskis Dahindämmern nach dem zweiten, nocturnehaften Satz des zweiten Klavierkonzerts ab, während das Allegro vivace Finale des ersten Konzerts wunderbar zum künstlerischen Aufbruch und zur Blüte Nijinskis innerhalb der Ballets russes passt. Man spürt förmlich, wie es hier den Künstler zerreisst, wie die Inspiration den Köper schreien lässt, weil sie raus muss.

Profil erhalten in Goeckes Choreografie neben der Zentralgestalt Nijinskis vor allem die anderen Männer: Da ist sein Mentor und Liebhaber Diaghilew, herausragend interpretiert von William Moore, der das diktatorische Gehabe des Meisters, die Besessenheit mit der Kunst, das Streben nach Perfektion genauso packend gestaltet wie sein sexuelles Begehren nach dem Körper des Tanzgottes. Mit erotischer Intensität gibt Yannick Bittencourt Nijinskis Tänzerkollegen Isajef, der in einer Traumsequenz die Muse für Nijinskis skandalumwitterte Choreografie von Debussys Après-midi d’un faune darstellt. Innerhalb des Traums kommt es dann zu diesem wunderbar choreografierten, homoerotischen Pas de deux. Unter die Haut geht auch die Szene im Irrenhaus mit dem experimentierenden Arzt, der von Dominik Slavkovsky beängstigend dämonisch dargestellt wird. Von den Frauen um Nijinski legt Goecke viel Gewicht auf die starke, alleinerziehende Mutter. Irmina Kapaczynska tanzt sie mit Autorität und Einfühlungsvermögen. Etwas an den Rand gedrängt erscheint mir die Beziehung zu Nijinskis Gemahlin Romola, getanzt von Mélanie Borel (die dann eigentlich in Nijinskis letzten dreissig Lebensjahren in geistiger Umnachtung ein grosse und liebevolle Rolle spielte). Eindrücklich interpretiert Katja Wünsche die Muse Terpischore, von rätselhafter Eindringlichkeit ist die Figur „Etwas“, dargestellt von der grossartigen Elena Vostrotina. Mèlissa Ligurgo und Jesse Fraser begeistern als Libellen, Constanza Perotta Altube räkelt sich als Rosenmädchen mysteriös in einem Sessel.

Überhaupt ist das Aufschimmern von Nijinskis grössten Erfolgen grandios gelöst: Neben dem ausführlichen Erinnern an Après-midi d’un faune werden die anderen Meisterwerke nur angetönt: Die Explosion mit der die Rosenblätter vom Bühnenhimmel fallen (Le spectre de la rose) erscheint wie ein lichtes Aufblitzen in Nijinskis geistiger Umnachtung. In einem grandiosen Pas de trois (Jan Casier, Wei Chen und Riccardo Mambelli) wird an Petruschkaerinnert, und das Umhängen des weissen Clownskragens an seinem Startänzer durch Diaghilew ist wie ein Vorbote auf das, was kommen wird: Den letzte Auftritt als Tänzer in St.Moritz, wo der Clown müde geworden ist und abbricht. Mit fantastischer Präzison meistert die Compagnie des Balletts Zürich die wenigen Ensembleauftritte.

Fazit: Marco Goeckes Tanzsprache ist in ihrer unverwechselbaren Einmaligkeit und hochsensiblen Ausgestaltung gerade bei diesem Künstlerdrama hochgradig faszinierend. Der Applaus des Premierenpublikums jedenfalls war lautstark und begeistert.

Kaspar Sannemann 10.3.2019

Bilder (c) Carlos Quezada