Zürich: „Petruschka“ & „Le sacre du printemps“

Premiere am 8.10.2016

„Ein musikalisches Erdbeben“, notierte ein Augen- und Ohrenzeuge der Uraufführung von Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS. Diese Uraufführung in Paris im Jahre 1913 führte zu tumultartigen Szenen und einem der bekanntesten Theaterskandale der Geschichte – und auch über hundert Jahre danach lösen Musik und choreografische Interpretation ein Erdbeben (der Gefühle) aus. Denn von Strawinskys unerbittlicher Musik und den archaisch-brachialen Riten auf der Bühne kann man sich nicht distanzieren. Auch gestern Abend am Opernhaus Zürich nicht, wo mit diesem Strawinsky-Abend die erste Ballettpremiere der Saison über die Bühne ging. Es wurde ein packender, spannender und eben auch emotional aufwühlender Abend. Obwohl man zwei Choreografen (Marco Goecke für PETRUSCHKA, Edward Clug für LE SACRE DU PRINTEMPS) eingeladen hatte, die mit ihren unterschiedlichen Handschriften die beiden Werke prägten, wurde PETRUSCHKA wurde vom nachfolgenden SACRE nicht erschlagen.

Als Klammer dienten natürlich einerseits die farbenreich instrumentierten Partituren aus der Feder Strawinskys, welche von der Philharmonia Zürich unter der Stabführung von Domingo Hindoyan mit subtil abgestimmter Kraft und mitreissender (und manchmal auch erschütternder) Prägnanz erklangen. Andererseits bildeten die schwarzen Bühnen (Michaela Springer für PETRUSCHKA, Marko Japelj für SACRE) einen beinahe einheitlichen Rahmen. Bei beiden Werken sorgte zudem Martin Gebhardt für eine ausgeklügelte (eher kalte) Lichtgestaltung. Und schliesslich entwickelten beide Choreografen die Ballette ganz aus dem musikalischen Duktus heraus, einem Duktus der direkt in die Körper der Tänzerinnen und Tänzer des Ballett Zürich hineinzufliessen schien. Marco Goecke verzichtete bei PETRUSCHKA auf jegliche Folklore oder volkstümliche Zutaten. Diese sind in der Musik enthalten und der Choreograf wollte sie nicht szenisch verdoppeln. Auf der schwarzen, leeren Bühne wird auf jegliche Requisiten verzichtet (mit Ausnahme der kurzen Szene mit den spektakulär eingesetzten und beleuchteten schwarzen Ballone).

Die Solisten und die TänzerInnen des Ballett Zürich und des Junior Balletts sind einheitlich gekleidet, in schwarzen, weit geschnittenen Hosen mit nacktem Oberkörper oder hautfarbenem Oberteil (Kostüme: Michaela Springer). Für den mit der Handlung wenig vertrauten Zuschauer wird es so ziemlich schwierig, in das Thema hineinzufinden, die zutiefst menschliche Tragik zu erfassen, welche durch diese auf dem Jahrmarkt zum Leben erweckten Puppen erzählt wird. Sogar die Ermordung Petruschkas durch den Mohren läuft beinahe als Nebensächlichkeit ab. William Moore als Petruschka, Katja Wünsche als Ballerina und Tigran Mkrtchyan als Mohr heben sich kaum von den Nichtsolisten ab, nur Petruschka und der Zauberer (Christopher Parker) kriegen ein Attribut: Petruschka einen weissen Harlekin-Kragen, der Zauberer Glöckchen an den Hosen. Sie alle kommen mit der hektischen, rasanten, abgehackten Körpersprache, welche Goecke von seinen TänzerInnen fordert, bestens zurecht. Die rudernden Arme, die steifen, abgewinkelten Hände, die hochgezogenen Schultern wirken zwar fahrig und nervös, doch steckt dahinter eine phänomenale Präzision und man spürt, dass das alles ganz aus dem Geist der Musik herausgearbeitet wurde. Vieles wirkt bewusst überzeichnet, fast wie in einem Stummfilm, nur dass Goecke die Tänzer auch zu vereinzelten Lautäusserungen animiert, übertrieben hysterisches Lachen oder Schreien. Die TänzerInnen tauchen aus dem Schwarz der Bühne auf und werden vom Schwarz auch wieder verschluckt, fast episodenhaft und filmisch überschneiden sich die einzelnen Szenen. Am Ende schliesst sich der angedeutete Puppentheatervorhang im Hintergrund, Petruschkas Geist hat uns alle zum Narren gehalten und wir sind nicht mal so unglücklich, dass das Stück nicht länger als 35 Minuten dauert, denn irgendwann ist dann auch gut mit der zittrigen Erregtheit und den zackigen Bewegungen.

Nach der (ziemlich langen) Pause dann Edward Clugs Interpretation von LE SACRE DU PRINTEMPS, entstanden für das Slowenische Nationalballett Maribor 2012, für Zürich nun neu einstudiert – ein gewaltiger Wurf. Die Bühne ist auch hier rabenschwarz, verhangen mit etwas Bühnennebel im fahlen, von oben fallenden Licht. Nur im unteren Drittel ist ein weisser Streifen der Hoffnung ausgespart, welcher dann aber zu Beginn des zweiten Teils (Das Opfer) ebenfalls vom schwarzen Vorhang überdeckt wird. Clug beschränkt sich auf sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer, welche in einer Art Endzeitstimmung im Bühnengeviert gefangen sind, sich nach dem Licht recken, ein Möglichkeit des Ausbruchs suchen. Eine Art Geschlechterkampf scheint sich abzuspielen. Die Menschen wirken nackt in der sandfarbenen Unterwäsche, die Körper weiss bemalt, die Frauen mit Zöpfen und etwas übertriebenem Wangenrouge (eine kleine Hommage an die Uraufführung), erbarmungslos ihrem tristen Dasein ausgeliefert. Immer wieder klappen sie ermattet und erschöpft zu Boden. Nur eine sondert sich von Beginn weg ab: Katja Wünsche als die junge Frau, welche nicht durch die Gruppe in die Opferrolle gezwungen wird, sondern dieses Selbstzerstörerische, Opferwillge von Anfang an selbstbestimmt in sich trägt, das Martyrium quasi sucht. Das geht wahrlich unter die Haut.

Wunderbar einfühlsam dann die Szene, in der die Frauen dem Opfer zärtlich die Zöpfe entflechten: Anteilnahme am Schicksal des Opfers und Vorbereitung der Qualen zugleich. Phänomenal natürlich der szenische Coup de théâtre mit dem Wasser, welches am Ende der ersten Teils vom Bühnenhimmel fällt, perfekt und effektvoll ausgeleuchtet wird und von nun an die Szene beherrscht. Bewundernswert, wie die Tänzerinnen (neben Katja Wünsche begeistern Giulia Tonelli, Anna Khamzina, Pornpim Karchai, Melissa Ligurgo und Constanza Perotta Altube) und Tänzer (Alexander Jones, Matthew Knight, William Moore, Daniel Mulligan, Manuel Renard und Tars Vandebeek) sich auf das „gefährliche“ Element Wasser einlassen, mit dem glitschigen Boden und den Pfützen spielen, sich beregnen lassen. Von einer tristen Poesie geprägt sind die wunderbar laut- und schwerelos über den nassen Boden gleitenden Tänzerinnen, welche wie Schwäne über die klitschnasse Bühne schweben. Diese zauberhaften Momente bilden einen scharfen Kontrast zu den brachialen und archaischen Riten, in welchen diese wie letzte Überlebende nach einer Naturkatastrophe ums Leben kämpfenden Menschen verzweifelt Zuflucht suchen. Auch bei Clug ist (wie zuvor bei Goecke) alles genau und feinfühlig aus der Musik Strawinskys heraus entwickelt, den packenden Sog der Partitur erbarmungslos aufnehmend und weiterführend.

Am Ende verdienter, lang anhaltender Jubel des Premierenpublikums für einen aufwühlenden, mitreissenden und stellenweise regelrecht erschütternden Strawinsky-Abend, der eben durchaus den „Erdbeben“-Charakter in sich barg und immer noch birgt.

Bilder (c) Ballett Zürich / Gregory Batardon