Zürich: „Der Sandmann“

Premiere am 28.05.2016, Uraufführung am 7. April 2006 in Stuttgart

Ballett nach der Fantasie-Novelle von E.T.A.Hoffmann

Der Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck hat die 2006 für das Stuttgarter Ballett konzipierte Adaption von DER SANDMANN für seine Zürcher Compagnie neu einstudiert. Gestern Abend fand die begeistert aufgenommene Premiere statt.

Die düstere, ja geradezu beängstigende und bedrückende Atmosphäre von E.T.A.Hoffmanns Novelle einzufangen und für die Ballettbühne umzusetzen ist dank des fantastischen Ineinandergreifens von Musik, Bühnenbild, DarstellerInnen und Choreografie hervorragend gelungen. Auf der leicht schrägen, von taubenblauen verschiebbaren Wänden nach hinten begrenzten Bühne von Dirk Becker tanzt sich der traumatisierte Nathanael in den Abgrund. Hinter diesen Wänden befindet sich das detailreich ausgestattete Laboratorium von Spalanzani, in welchem er seine Automatenpuppe Olimpia erschaffen hat. Für die Backflashes, welche Nathanael immer wieder heimsuchen, wird eine Tapetenwand mit dem Bild eines kahlen Zimmers vom Bühnenhimmel heruntergefahren und kaltes Neonlicht erhellt die Szenerie. Man sieht dann Klein-Nathanael wieder in seiner Kindheit, im Kreis der gefühlskalten Familie, alleine am und unter dem Tisch sitzend, beobachtend wie der gruselig-dämonische Coppelius sich in diese Famile drängt, den Vater zu zweifelhaften, tödlich endenden Handlungen (die für uns unsichtbar hinter der Tapetenwand stattfinden) verführt, den Jungen für sein Spionieren bestraft. Und da sind auch die Zwillingsschwestern, welche immer nur bewegungslos dastehen, Hand in Hand, unheimlich wie die Grady-Zwillinge aus Kubricks THE SHINING.

Die Verzahnung von Gegenwart und Vergangenheit wird auch von der Musik unterstützt: Schumanns Klavierquintett und Klavierquartett, sowie Solostücke für Klavier (Davidsbündlertänze, Kreisleriana, Kinderszenen, Album für die Jugend) werden für die Gegenwart benutzt, die bedrohlich verfremdenden elektronischen Klänge von Martin Donner dienen als Überleitungen und Tagträume Nathanaels und seine Begegnung mit Olimpia, und die ins Groteske weisenden Kompositionen von Alfred Schnittke für die beklemmenden Szenen der Kindheitstraumata und für das totale geistige Verfallen Nathanaels am Ende. Dabei – und dies ist das Erstaunlichste dieses Abends – wirkt die Musik dieser drei so unterschiedlichen Komponisten (Schumann, Schnittke und Donner) wie aus einem Guss, zwingend und bezwingend eingesetzt und ineinander verflochten.

Tänzerisch ist es natürlich der Abend von Matthew Knight als Nathanael. Pausenlos ist er auf der Bühne gegenwärtig, ein schlaksiger Nerd in zu kurzen Hosen (die stimmigen, in dunklen erdigen Farben gehaltenen Kostüme stammen von Emma Ryott), gepeinigt von Erinnerungen. Er kann die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden, erliegt seiner Psychose schliesslich in spastischen Zuckungen. Matthew Knight setzt das alles mit herausragender, berührender Intensität um. Die wenigen lichten Momente weichen immer wieder schnell der Verblendung und den qualvollen Erinnerungen an die Kindheit, welche ihn wie peinigende Kopfschmerzen heimsuchen. Irre, im wahrsten Sinne des Wortes. Spuck hat darauf verzichtet, nach Nathanaels Tod das Stuttgarter Schlussbild mit dem neuen Familienidyll (Clara, Siegmund, Knabe mit Schaukelpferd) zu evozieren.

In Zürich endet das Ballett mit dem Sterben Nathanaels. In dunkler Umnachtung wird da einer armen Seele das Leben ausgehaucht. Ganz herausragend charakterisiert sind die Figuren, welche Nathanael durch seine düstere Reise in den Abgrund begleiten: Ihnen allen begegnen wir gleich zu Beginn in einem eingefrorenen Tableau vivant, in welches durch das Schaukeln von Klein-Nathanael auf seinem schwarzen Pferd langsam Bewegung kommt. Tars Vandebeek und Francesca Dell’Aria stellen das Elternpaar Nathanaels dar; er der in der Beziehung zu seiner Frau so unglückliche Vater, der sich noch so gerne von Coppelius aus dem erkalteten Zusammensein mit seiner Frau entführen lässt, sie die stille und gestrenge Frau und Mutter, die sich emotionslos und passiv der Situation nicht gewachsen zeigt. Geradezu genial erscheint die Darstellung des Coppelius durch Dominik Slavkovsky: Spinnenartig umgarnt er den Vater, drängt sich in die Familie hinein, bucklig, langbeinig, spindeldürr, wie die Karikatur einer Figur von Wilhelm Busch. Ähnlich erscheint dem älteren Nathanael dann der Wetterglashändler Coppola, getanzt von William Moore. Auch er hat dieses Spinnenartige an sich, umgarnt Nathanael, wird von diesem in einem starken Zweitanz aber erst mal aus dem Zimmer geworfen, doch kehrt er schon bald mit dem unseligen Perspektiv zurück, durch das Nathanael dann in Spalanzanis Laboratorium blickt und die Puppe in ihrem auberginefarbenen Tutu als Wesen von Fleisch und Blut wahrnimmt. Filipe Portugal stellt diesen Spalanzani mit weit ausgreifenden, eindrücklichen Schritten und Bewegungen dar.

Viktorina Kapitonova tanzt seine Schöpfung, die Puppe Olimpia, mit grandioser Präzision auf der Spitze, fällt immer wieder zusammen, wenn das sie antreibende Räderwerk ermüdet. Dabei verliert sie in keinem Moment das dämliche, puppenhafte Grinsen, dieses „Doll face“, welches der verblendete Nathanael als Zuneigung deutet. Auch Nathanaels um ihn kämpfende Verlobte Clara kann ihn nicht aus seinen Wahnträumen befreien. Katja Wünsche tanzt die Clara mit schlichter, leicht biederer Eleganz, versucht ihn in ihrem ersten Pas de deux immer wieder in die Realität zurückzuholen, wenn sie spürt, dass sein Geist zu wandern beginnt. Vergeblich. Sehr klar zum Ausdruck bringt Christian Spuck hier die Fallhöhe der Beziehung zwischen Clara und Nathanael: Sie sucht körperliche Nähe und Intimität, er berührt sie kaum, schafft immer wieder Distanz. Im zweiten Teil dann ist Nathanaels Geist total abgedriftet, und er versucht Clara umzubringen. Katja Wünsche ist in dieser Szene, wo sie sich gegen die Brutalität Nathanaels wehrt, von ganz besonderer Intensität. Zum Glück wird sie im letzten Moment von Siegmund und Lothar (Wei Chen und Christopher Parker) gerettet. Die beiden Freunde Nathanaels interpretieren im ersten Teil auch einen virtuos choreografierten Pas de trois mit Nathanael. Präzise tanzt das Corps seine Auftritte in der Ballszene, oder geistert als bedrohliche Masse über die dunkle Bühne dieses Nachtstücks. Interessant ist die Führung der Hände und der Füsse, welche aus klassischen Posen in abgewinkelte Positionen übergehen, das Fliessen der Bewegungen stocken lassen und ins Geheimnisvolle, ins Irre führen. Die Arme werden oft unter den Oberschenkeln oder dem Rücken verschränkt und verrenkt.

Aber wie gesagt, die Musik hat an diesem Abend einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Wirkung des Gesamtkunstwerks. Dafür zuständig sind für Schnittkes Kompositionen die Philharmonia Zürich unter der Hochspannung und Schauer erzeugenden Leitung von Riccardo Minasi im Graben und der wunderbar Schumanns Klavierstücke interpretierende Adrian Oetiker am Konzertflügel auf der Bühne. Zu ihm gesellt sich im ersten Teil auch das superbe Streicherquartett mit Konzertmeister Bartlomiej Niziol und Xiaoming Wang (Violinen), Karen Forster (Viola) und Xavier Pignat (Violoncello).

Bilder (c) Ballett Zürich / Carlos Quezada

Kaspar Sannemann 1.6.16