Kissinger Sommer 2015

Ein Fest der Vielfalt

Festival schießen bekanntlich wie die Pilze aus dem Boden. Manche leben ungeniert vom allsommerlichen Rundlauf etablierter Ensembles, die sich quer durch die Lande die Türklinken reichen. Der 1985 aus der Taufe gehobene Kissinger Sommer mutierte längst zu einem Fest der Vielfalt. Locker reihen sich die Veranstaltungen aneinander. Musik aus bestimmten Zeiträumen, vorwiegend zentraleuropäische Klassik und Romantik, geben den Ton an. Mehr oder weniger reden die um die gleichen Ewigkeitswerke kreisenden Programmkonzeptionen dem Publikum ganz schön nach dem Mund. Erlesene, qualitativ hochrangig interpretierte „Best of classic“ Hits sind die dynamischen Kräfte, die das beliebte Kissinger Festival seit 30 Jahren so beliebt machen.

Recht buntscheckig nimmt sich aus, was die unermüdlich koordinierende Intendantin Kari Kahl-Wolfsjäger zu publikumsgefälligen Paketen schnürt. Von Klassik-Galas im historischen Regentenbau über Virtuosen-Auftritte, Liednachmittage, kammermusikalische Recitals bis hin zu Opernkonzerten – eine schillernde Vielfalt prägt ein Festival, das den Glamour nicht verachtet. Jetzt hängt die künstlerische Leiterin, die Kulturmanagerin Kari Kahl-Wolfsjäger, die dem Festival von allem Anfang ihren dramaturgischen Stempel aufdrückte, ihren Job an den Nagel. Ein wenig amtsmüde ist sie geworden. „Es schon ein Balance-Akt, dieses Programme-Schmieden. Die meisten Konzertbesucher wollen halt ihre angestammten Klassik-Hits genießen, und da könnte ein allzu experimentierfreudiges Programm zu unliebsamen Überraschungen führen. Selbst über das violonistische Prachtstück, Jean Sibelius‘ Violinkonzert (gespielt von Viktoria Mulova), rümpfte man die Nase, ganz zu schweigen von Dmitri Schostakovich‘ Fünfter, die so mancher lieber durch Brahms oder Beethoven oder Tschaikowsky ersetzt wünschte“.

Trotzdem: einen Riecher, auch die Moderne in die Programme zu schmuggeln, dafür kreierte die Norwegerin schon immer aufregende Konzert-Formate, z.B. die zu später Abendstunde eingeschobenen Sessions, wo etwa der ingeniöse Markus Hinterhäuser (Salzburgs designierter Intendant) das Kunststück fertig brachte, in den Sonaten der Russin Galina Ustvolskaya den Grenzen der Ausdrucksmöglichkeiten auszuloten. In guter Erinnerung aus früheren Konzerterlebnissen bleiben kammermusikalische Trouvaillen. Und es scheint, dass in den kammermusikalischen Reihen die Moderne gut aufgehoben ist. So wurden nach Hörabenteuern lechzende Nachtschwärmer in einem Hörmarathon mit Werken von Peter Ruzicka, Krzyzstof Pendereck und Wolfgang Rihm beehrt. Wer genug Sitzfleisch mitbrachte und die Augen offen halten konnte, wurde erst zu spätmitternächtlicher Stunde ins Bett beordert.

Besondere Aufmerksamkeit – eine wohl bekannte, viel gelobte und immer wieder diskutierte Spezialität, der Intendantin teuerste Kreation – gilt der „Liederwerkstatt“, für die in der Regel eine eingefleischte Komponisten-Garde Spalier steht. In diesem Jahr hoben Nikolaus Brass, Sarah Mentsov, Bernd Redmann, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Steffen Schleiermacher und Manfred Trojahn eigens für die „Liederwerkstatt“ geschriebene Lieder aus der Taufe.

Kammermusikalische Darbietungen schöpften in Bad Kissingen schon immer Goldminen. Was für ein Solitär, der Chamber Music Society of Lincoln Center New York zu begegnen. In zwei Konzerten gab es Berühmtes, aber auch Rares zu bestaunen: Das Klavierquartett Es-Dur op. 87 von Antonín Dvorák. Auch Robert Schumanns Klavierquintett Es-Dur op. 44 imponiert durch Farben, stimmungsvolle Abschnitte und schroffe Gegensätze. Über stilistische Querverbindungen bis hin zu US Repräsentanten – unter anderem einem jüdisch-jazzigen, Klezmer-Spuren folgendem Trio von Paul Schoenfield – formt das Programm der Lincoln Kammervirtuosen einen spannungsgeladenen Brückenschlag über Zeiten und Kontinente.

Hoffnungslos ausverkauft war der Aufritt von Cecilia Bartoli, die unter dem Motto „Von Venedig bis St. Petersburg“ Barock-Arien ausdrucksreich mit nahezu bruchlos laufendem Registerwechsel, perfekt in den Fiorituren, eine große emotionale Spannweite durchmaß. Am Pult von I Barocchisti stand Diego Fasolis. Schließlich ließ „Note italiana“ des Münchner Sonntagskonzerts (Am Pult Jacek Kaspszyk) die Kehlen ausgezeichneter Sänger in einem dramaturgisch zusammenhanglos aufgezogenen Arienverschnitt schwelgen. Mit strahlendem Belcanto hinterließ der Mexikaner Arturo Chacón-Cruz einen fabelhaften Eindruck.

Heiß begehrt war das Recital von Gregorij Sokolov im Regentenbau. Dieser Charismatiker am Klavier führt supreme Erzählkunst vor. Alles wird komplex durchdacht, hinsichtlich der Stimmungslage fein ausbalanciert und mit subtilen Anschlagsvaleurs bedient. Tief hört Sokolov in die Tiefen der Seelengründe von Franz Schuberts Sonate a-Moll D 784 hinein. Wie es Beethoven gelingt, in der Sonate op. 10/3 das motivische Material zu vereinheitlichen, gewinnt in der hochkonzentrierten Wiedergabe durch Sokolov unverwechselbare Gestalt. Ein abwechslungsreiches Spiel, das im launigen, flüchtig dahin surrenden Rondo durch Sokolovs schlüssige Auslegungskunst die Offenheit der kompositorischen Sprache prägnant heraushebt.

Eines hat der Kissinger Sommer den Mitbewerbern voraus: hier geben auch die Jungen, die „Next Generation“ den Ton an. So setzt das Meisterduo Nikolai Tokarev (Sieger der ersten Kissinger KlavierOlympiade 2003) und der Geiger Sergey Dogadin im Recital im Rossini-Saal auf virtuose Kost wie Strawinskys Divertimento, Campanella von Paganini/Liszt, Milsteins Paganiniana und anderes. Auf dieser Welle wird Kari-Wolfsjäger nach Beendigung ihrer Tätigkeit in Bad Kissingen in ihrer neuen Heimat in München ein Festival ins Leben rufen, das hochklassigen jungen Solisten Auftrittschancen bieten soll. Der neue Shooting Star der internationalen Pianistengarde, Daniil Trifonov, setzte im e-Moll Klavierkonzert von Frédéric Chopin auf den Kult des Leisen – eine manierierte Spielweise, die der Pianist in der poesievoll-innigen Romanze (Larghetto) zwar mit subtilen Anschlagsnuancen und technischer Bravour bedient. Doch zu einem pianistischen Glücksfall reicht es nicht. Dazu gehört halt auch der alles überwölbende Spannungsbogen und die Ausgewogenheit im Spiel. Am Pult des Mariinsky Orchesers aus St. Petersburg stand der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker Valery Gergiev, der Peter Tschaikowskys sechster Sinfonie h-Moll mondäne Schmerzenswollust und Leidenssehnsucht entband.

Der neue Intendant Tilman Schlömp (er kommt vom Beethoven-Fest Bonn) wird in Bad Kissingen bei seinem Amtsantritt 2016 gleich mit einer Kürzung des Festival-Etats von € 200.000 konfrontiert. Kahl-Wolfsjäger: „Man darf halt nicht zu freundlich sein“. Jetzt heißt für den neuen Intendanten „Fund raising“ die Devise. Im Übrigen musste Bad Kissingen in der letzten Zeit einen Rückgang der Besucherzahlen hinnehmen. Der aktuelle Auslastungsgrad wird mit rund 87 % angegeben. Nicht künstlerische Aspekte seien nach Kahl-Wolfsjäger hierfür verantwortlich, sondern in erster Linie der Rückzug eines Fünf-Sterne-Hotels (Steigenberger). Davon sind vom Luxus verwöhnten Naturen, die „Convenience“ besonders hoch halten, wohl weniger begeistert. Doch ein Trostpflaster mag es sein, dass dem Vernehmen nach sich ein neues Hotel-Projekt bereits in der Planung befinden soll.

Egon Bezold 19.7.15

Bilder Kissinger Sommer