Berlin: „Exit Paradise“, Arash Safaian

Verschlossenes Paradies

Eine Uraufführung ist an den drei großen Berliner Opernhäusern immer ein besonderes Ereignis, für die vierte Oper Berlins, die Neuköllner, ist es der normale Alltag, gab es doch in diesem jahr bereits sieben davon, die letzte am 5.9. im Studio. des Theaters im vierten Stock der Passage in der Karl-Marx-Straße in Neukölln. Bei "Exit Paradise" handelt es sich um ein work in progress, denn zunächst gab es nur einen nächtlichen Streifzug von sechs Autoren durch Neukölln und als dessen Ertrag ebenso viele Texte über die dabei gewonnenen Eindrücke. Diese wurden in einem zweiten Schritt um Musik und Songs erweitert. Als Drittes ensteht daraus ein Theaterabend, aus sechs Einzelszenen bestehend. Einige Monate später ist aus diesen der Abend "Neuköllateralschaden" geworden und erlebt seine Uraufführung. Textdichterin Uta Bierbaum und Komponist Arash Safaian schaffen daraus ein "Singspiel" für drei Sänger und mit einer fortlaufenden Handlung.

Die Geschichte spielt zwar in Neukölln, in der Karl-Marx-Straße, einst eine bürgerliche Einkaufsstraße mit vielen Familienbetrieben, die in den letzten Jahren allesamt verschwunden sind und Ramschläden, Spielhallen, Handy-Geschäften und Dönerbuden Platz gemacht haben, aber sie könnte in jeder anderen Stadt und Straße mit ähnlicher Entwicklung stattgefunden haben. Bolle (auch ein in Berlin einst bekannter Name für eine Geschäftskette, die aus dem Bolle-Bimmel-Wagen, der die Milch vor die Haustür der Kunden brachte und eins der ersten Opfer der Globalisierung wurde, hervorging) träumt von seinem Motorrad und seiner Freundin Uschi. Die Hauptfeinde des Arbeitslosen sind der TÜV und die Kontrolleure der Berliner Verkehrsbetriebe. Uschi träumt von Amerika, vom Reisen und von einer weißen Porzellanfigur, einen Schäferhund darstellend, aus dem Schnäppchenladen. Die liegt am Schluss nach einem Unfall zerschmettert auf der Straße, Uschi stirbt dabei, nachdem sie bereits eine Abtreibung durchgemacht hat, und selbst der Hund schafft es nicht lebend bis zur Autobahn. Es gibt noch eine dritte Figur, Lana, ein in Gold und Blütenjacke gekleidetes Wesen, vielleicht ein Traumbild von Uschi, vielleicht auch eine reale Person.

Die Musik erinnerte ebenso an Barock- wie Rock-Musik; Klavier (Markus Zugehör, der auch die musikalische Leitung hat) und Cello (Natasha Jaffe) führen den Orchesterpart aus, dazu kommen elektronische Elemente (Sandra M. Heinzelmann). Ena Pongrac hat für die Lana einen geschmeidigen, erotisch klingenden Mezzosopran. Klar und herb ist der Sopran für die dem Paradies nachstrebende Uschi von Ulrike Schwab. Martin Gerke singt mit virilem Bariton den Bolle. Das unglückselige Pärchen hat in den beiden Letzteren auch vorzügliche Darsteller gefunden.

In dem kleinen Raum für die Studiobühne der Neuköllner Oper hat Pia Dederichs zwischen zwei Zuschauerblöcke eine Art Karussell gestellt, das sich drehen, auf das man klettern und das man mit Vorhängen verhüllen kann. Das ist ein vorzüglicher Einfall, um auf kleinstem Raum viel Action stattfinden zu lassen und Abwechslung in der Optik zu garantieren. Paul-Georg Dittrich hielt die jungen Sänger zu sensiblem, einfühlsamem Spiel an, so dass sie dem Zuschauer einen Eindruck von der trost- und ereignislosen Lage junger Leute in diesem Bezirk, in dessen nördlichem Teil fast jeder Zweite Hartz-IV-Empfänger ist, vermitteln und Sympathie wecken können.

17.9.2014 Ingrid Wanja
Fotos Neuköllner Oper