Heilbronn: „Martha“, Friedrich von Flotow

… oder der Markt zu Richmond – Erstanden aus dem Geist der Operette

„Martha, Martha, Du entschwandest – und mit Dir mein Portemonnaie…“ sang man auf den Ohrwurm von Friedrich von Flotow noch vor dem Krieg (erzählte mir meine Mutter). Damals war es noch ein beliebtes Werk aus dem Genre der deutschen Spieloper (Biedermeier-Oper). Heute gelangt dieses Meisterwerk des leichten Fachs („romantisch-komische Oper“) nur noch ziemlich selten auf den Spielplan eines deutschen Musiktheaters – und eher im „Beitrittsgebiet“ als in den künstlerisch verpflichteten Häusern in Westdeutschland. Und warum ist das so? Weil die Vivisekteure der Theaterwelt (auch Regisseure genannt) bei dem Werk nichts zu sezieren haben und es deswegen nicht lieben. Und zu einer konventionellen Produktion gehört so viel Können, damit es nicht in Langeweile versinke, wie es viele unserer Regisseure nicht mehr haben. Bei denen muss tiefenpsychologisch seziert werden; dafür ist die „Martha“ kein geeignetes Opfer.

Kein Wunder, dass die Inszenierung von Vico von Bülow, auch als Loriot bekannt und leider 2011 verstorben, nun in einer Gastspielserie des Münchner Gärtnerplatztheaters im Theater Heilbronn just bei der besuchten Aufführung schon ihre 111. Vorstellung feiern konnte. Und das reicht nicht, denn das Theater am Gärtnerplatz hatte mit Premiere am 6. Juli 1997 die Produktion schon von der Württembergischen Staatsoper (Premiere 24.01.1986) übernommen. Wie viele Aufführungen die Produktion dort erlebt ha, ist nicht bekannt. Die Inszenierung von Loriot genießt inzwischen Kult-Status. Man kann nur hoffen, dass das Gärtnerplatztheater der Bayeríschen Staatsoper neben den ganzen Operettenverpflichtungen, die ihm durch die neue Intendanz auferlegt worden sind, mit dieser wunderbaren Inszenierung noch lange durch die deutschen Gastspieltheater tingeln wird.

Mitte: Martin Hausberg (Lord Tristan Mickleford); die vier Leute rechts: Holger Ohlmann (Plumkett), Ann-Katrin Naidu (Nancy), Inga-Britt Andersson (Parallelbesetzung als Lady Harriet), Johannes Chum (Lyonel); Chor und Statisterie

Loriot legt die Handlung etwa in die Mitte des 19. Jhdts., also in die Entstehungszeit des Werks, lässt aber den Geist und Stil des Theaters der historischen Handlung, also des 18. Jhdts. durch die Szenen wehen. Da er als darstellender Künstler auch das Bühnenbild und die Kostüme entworfen hat wirkt das Ganze wie aus einem Guss – und dabei sehr detailverliebt. Das Bühnenbild bedient sich der vorklassischen Telari (dreiseitige bemalte drehbare Prismen auf beiden Seiten der Bühne), mit welchen im Handumdrehen bei gleichzeitigem Auswechseln des Prospekts die Szenen verwandelt werden können. Im ersten Bild befindet man sich in einem großen eleganten Wintergarten aus einer eleganten Stahlkonstruktion, wie sie etwas später im 19. Jhdt., also der neueren Eisenzeit, entwickelt worden sind. Das zweite Bild ist der liebevoll gezeichnete Markt von Richmond mit Perspektive auf eine Straße zwischen klassizistischen Häusern, vor welche das Gerichtsgebäude heruntergelassen wird. Hier gibt es neben dem Gasthof zum Schwarzen Schaf eine Unmenge Einzelheiten zu entdecken. Im dritten Bild ist die etwas einfachere Welt der beiden Junggesellen dargestellt.

Holger Ohlmann ( Plumkett), Johannes Chum (Lyonel), Ann-Katrin Naidu
(Nancy), Inga-Britt Andersson (Parallelbesetzung der Lady Harriet)

Hier spielen sich die köstlichsten Szenen ab. An einer Holzstütze hängt die Daguerreotypie einer unbekleideten Frau. Wenn Besuch kommt – oder frische Mägde verdingt werden – kann man das Bild schnell umdrehen: auf der Rückseite thront matronenhaft die große Königin Victoria. Man scheint wirklich in England zu sein. Auch die Reitgesellschaft im vierten Bild, die in eine Waldgaststätte eingezogen ist, zeigt Anklänge an die Briten. Aber nein: als ein nur mittelgroßer Mann mit Barett und Backenbart hinzutritt, sich an einen Tisch setzt und mit großem heroischem Blick ins Unendliche schaut, weiß man genau wo man ist: im Gartenlokal der Lochmühle im „Liebethaler Grund“ bei Pirna, wo Richard Wagner 1846 an seinem Lohengrin gearbeitet hat. Die grünen Gartenstühle des Lokals hat Ihr Kritiker dort 1975 dort noch gesehen (ehrlich!) – vor dem riesigen Denkmal Wagners, das dort 1933 aufgerichtet worden ist, dem größten Denkmal des Titanen abgesehen von seiner Musik… Im fünften und letzten Bild befindet man sich wieder in der Heimstätte von Lyonel und Plumkett. Jemand hat das Bild wieder auf die Seite der Daguerreotypie gedreht. Beim Lieto fine wird im Prospekt zu „God shave the Queen“ ein riesiges Victoriamatronenportrait hochgezogen, immer höher, bis das Bild mit der darunter befindlichen monumentalen royalen Teekanne eingefroren wird. Alle haben sich lieb; Doppelhochzeit ist angesagt.

Ann-Katrin Naidu (Nancy), Inga-Britt Andersson (Lady Harriet), Martin Hausberg (Lord Tristan Mickleford), Johannes Chum (Lyonel), Holger Ohlmann (Plumkett); Chor, Statisterie

Die subtilste, hintergründige Ironie, die das ganze Stück durchzieht, macht die Inszenierung in Verbindung mit den teilweise operettenhaften Bewegungsmustern der Chorszenen und einigen abstandserzeugenden Verfremdungseffekten zu einer wahren Kultproduktion. Dank sei den Theater am Gärtnerplatz und dem Theater Heilbronn, dass sie das wieder hervorgezogen haben. Insgesamt elf Vorstellungen werden gegeben. Die Zuschauer werden es danken und dem Theater weiter steigenden Zuspruch geben. Von den vielen Sketch-artigen Insertierungen, mit denen die nur vordergründig konventionell gehaltene Inszenierung aufgemischt wird, seien nur drei genannt. Der Nachtwächter, der bei Einbruch des Abends auf dem Markt von Richmond mit einer hohen, langen Hakenstange die Laternen anbringt – auf Kopfhöhe! Und das wird die Feministinnen erfreuen: Nancy und Lady Harriet, die als Dienstmädchen bei Plumkitt und Lyonel eingetreten sind, wehren sich gegen den Befehl des Spinnens und „lassen spinnen“ – dvon Lyonel und Plumkett. Dabei setzen sie sich auf das herrschaftliche Sofa, lesen Zeitung und häkeln an Plumketts herrschaftlicher Arbeit weiter: ein Union Jack. Nun häkeln sie also doch die Frauen! Im Gartenlokal bedient ein depressiver Kellner. Das ist wie in der Wirklichkeit: der schaut nie hin, wo gerade ein Bier bestellt werden soll. Selbst Richard Wagner muss dreimal winken ehe er eines bekommt (Dann trinkt er es aber nicht aus, vielleicht ist man doich in England?) Dafür stellt der Kellner, der schon Feierabend hat, aber gnadenlos die schönen grünen Gartenstühle auf die Tische.

Holger Ohlmann (Plumkett), Ann-Katrin Naidu (Nancy), Inga-Britt Andersson (Lady Harriet Durham), Johannes Chum (Lyonel): Chor und Statisterie

Zu der unübertrefflichen Inszenierung gesellt sich eine durchwegs zufriedenstellende musikalische Darbietungsleistung des Gärtnerplatz-theaters, das zuvor am Nachmittag schon eine Vorstellung gegeben hatte. Michael Brandstätter dirigierte das Orchester des Staatstheaters, das bis auf wenige Unkonzentriertheiten eine famose Leistung erbrachte. Von Flotows Partitur wurde leicht, schmissig und prägnant dargeboten. Dabei hielt man sich – in bestem Operettenstil – nichtsklavisch an die Partitur. Zu den Worten (im ersten Bild) „Wie? Tristan, ist das Ihre Liebe?“ erklang etwas vereinfacht das Sehnsuchtsmotiv aus Tristan und Isolde, das historisch erst achtzehn Jahre später öffentlich gehört werden konnte. Später kamen noch Choranklänge aus Tannhäuser und Lohengrin – passend zur Szene im Gartenlokal bei der sächsischen Lochmühle. Der prächtig eingekleidete Chor war präzise eingebunden.

Auch das Sängerensemble agierte auf hohem Niveau. Die Solisten stammten aus dem inzwischen aus dem von der neuen Intendanz teilweise zerschlagenen Ensemble des Gärtnerplatztheaters. Ann-Katrin Naidu als Nancy (Julia) verfügt über einen wunderbaren samtig-warmen Mezzo mit schlanker Führung von bester Textverständlichkeit und vermochte zudem, mit ihrer vorteilhaften Bühnenerscheinung für sich einzunehmen. In der Titelrolle Martha (Lady Harriet) gefiel die amerikanische Sopranistin Sandra Moon. Neben den lyrischen Passagen legte sie die Partie auch jugendlich dramatisch an, verband Ausdruckskraft mit Leidenschaft und glänzte mit makellosen Höhen. Die treffsicherste war sie dabei allerdings nicht. Martin Hausberg sang den Lord Tristan Mickleford mit weichem einschmeichelndem Bass und gefiel mit seiner noblen Erscheinung. Johannes Chum brauchte etwas Zeit, um in die Rolle des Lyonel zu kommen, gefiel dann aber mit seinem baritonalen Schmelz, kräftigem Volumen und klaren Höhen. Mit trockenem, voluminösen Bassbariton konnte Holger Ohlmann als Plumkett überzeugen. Als Richter von Richmond („Ist das Handgeld angenommen“) hätte der Bass Marcus Wandl der Rolle mehr stimmliche Würde verleihen können..

Obwohl an diesem Tage in Baden-Württemberg wegen eines außergewöhnlich persistenten Eisregens Katastrophenalarm ausgelöst worden war und die Leute gebeten waren, zu Hause zu bleiben, war das Theater bis auf wenige Plätz gefüllt. Jubelnder lang anhaltender Beifall für alle Mitwirkenden! Die nächste Aufführung ist am 5. Februar angesetzt, dann folgen noch sechs weitere bis zum 18. Mai.

Manfred Langer, 22.01.2013 Fotos: Thomas Frank / Fotostudio M 42