Landshut: „Tristan und Isolde“

Isoldes Vision von einem Happy End

Mit Standing Ovations endete im Opernzelt Landshut die Neuproduktion von Wagners „Tristan und Isolde“. Diese hatten durchaus ihre Berechtigung. Was einem an diesem Abend geboten wurde, war außergewöhnlich. Schon für große Häuser stellt dieses schwierige Werk eine echte Herausforderung dar, weswegen man es einem kleinen Theater nicht unbedingt zutrauen würde. Jetzt wurde man aber eines Besseren belehrt. Das kleine Landestheater Niederbayern ist das Wagnis einer Aufführung des „Tristan“ wagemutig und beherzt eingegangen und vermochte dann auch in jeder Beziehung einen phänomenalen Sieg für sich zu verbuchen. Wieder einmal hat sich mein Wahlspruch „Verachtet mir die kleinen Häuser nicht“ voll und ganz erfüllt. Leider gab es im zweiten Aufzug den Tag-und-Nacht-Strich, eine immer wieder schmerzliche Kürzung.

Ensemble

Die Niederbayerische Philharmonie besteht in der Regel aus ungefähr vierzig Musikern. Für „Tristan und Isolde“ ist das Orchester auf cirka 65 Instrumentalisten aufgestockt worden, sodass es im Graben recht eng zuging. Das hinderte die Musiker indes nicht, unter der versierten Leitung von GMD Basil H. E. Coleman auf geradezu exzellentem Niveau zu musizieren. Mit ihrer klangschönen, hoch konzentrierten und sehr disziplinierten Spielweise fiel es ihnen leicht, an die Leistung größerer Klangkörper anzuknüpfen. Fast schien es, als hätten die Instrumentalisten nie etwas anderes gespielt, so prachtvoll und routiniert bewältigten sie ihre schwierige Aufgabe. Coleman erwies sich dabei als ausgezeichneter Theaterdirigent, der Wagners Handlung in drei Aufzügen mit großem Esprit, in insgesamt raschen Tempi vorwärtsdrängend, emotional und mit einer reichhaltigen Farbpalette ausdeutete. Dabei behielt er ständig den großen Zusammenhang im Auge und spannte über das Ganze einen lang ausgedehnten Spannungsbogen. Zwar gingen die Sänger in den enormen Orchesterfluten manchmal ein wenig unter, insgesamt erwies sich der Dirigent aber als ausgesprochen sängerfreundlich. Er ging auf die Bedürfnisse der Solisten durchaus ein.

Annette Seiltgen (Isolde), Hans-Georg Wimmer (Tristan)

Sehr überzeugend war die moderne Herangehensweise von Regisseur Stefan Tilch an das Stück. Zusammen mit Bühnenbildner Karlheinz Beer und der für die gelungenen Kostüme verantwortlichen Ursula Beutler hat er das Geschehen in ein Museum verlegt. Der junge Seemann und Markes Gefolgschaft gehören zu dessen Mitarbeitern. Dieser Ansatz ist im Folgenden dann auch bestens aufgegangen. Den Rahmen des Ganzen bildet die von Tristan initiierte Staatsausstellung „Wie Held Tristan Isolde für König Marke gewann“. Dominiert wird der Bühnenraum von einem riesigen Bett, in dem Isolde am Ende des ersten Aufzuges in ihrem ausladenden Hochzeitskleid selbst zum Museumsstück Nr. 1 wird. Es gibt aber noch andere Exponate in dieser Ausstellung, die alle auf die Vorgeschichte – dieser kommt in Tilchs Interpretation zentrale Relevanz zu – Bezug nehmen wie beispielsweise Tristans Schwert, die Schwertsplitter sowie der Kahn, in dem sich der schwer verwundete Tristan zu Isolde hat bringen lassen, ferner Morolds eingetüteter Kopf, den Kurwenal höhnisch Brangäne präsentiert. Die ausgestellten Exponate sind den Privatsammlungen Tristans und König Markes entnommen. Bilder u. a. eines wilhelminischen Herrschers und von Adam und Eva sowie einige zeitgenössische Photomotive von Personen des öffentlichen Lebens hängen an der Wand und zu Beginn stehen verschiedene Multi-Box-Kisten herum, in denen die Ausstellungsstücke angeliefert wurden. Im zweiten Aufzug sind die Bilder mit Tüchern abgedeckt. Bei der Entdeckung des Liebespaares werden sie von Museumsangestellten wieder enthüllt. Das Liebesduett, bei dem Tee getrunken wird, findet auf einem roten Sofa statt. Im dritten Aufzug schließlich ist der Museumsraum zerstört, die Ausstellungsexponate sind verschwunden, nur noch ein Rahmen hängt von der Wand. Links vorne steht nun ein Grammophon mit einer alten Schallplatte, von der im Schlussakt die traurige Hirtenweise erklingt. Später führt der Hirt eine Platte mit lustigen Weisen der Bretagne mit sich.

Annette Seiltgen (Isolde), Anne-Theresa Moller (Brangäne)

Zu Beginn sieht man ein Tristan-Double tödlich verwundert im Kahn liegen. Eine EKG-Linie zeichnet seine Herzfrequenz auf. Isolde sitzt auf einem Stuhl und erinnert sich an die Vergangenheit. Der Regisseur liest die ganze Geschichte als „ein spirituelles Erwachen in drei (Auf-) Zügen“ (vgl. Programmheft). Dabei bildet er nicht nur reale Geschehnisse ab. Die vielfältigen, von Florian Rödl verantworteten Videoprojektionen spielen sich teils in der Wirklichkeit, teils aber auch nur in den Köpfen von Tristan und Isolde ab. So sind das Meer, die kornische Küste, Tristans ehemaliges Kinderzimmer, eine Intensivstation und die romanische Burg König Markes mit Garten und Feuerbränden realer Natur. Die Sonnenfinsternis, die Eislandschaft und der für die allumfassende Macht der Liebe stehende Erdball u. a. sind dagegen nur irrealer Natur. Auf diese Weise erfährt der Raum beeindruckende Variationen und Schauplatzwechsel, die den Zuschauer immer wieder am Seelenleben der Titelfiguren teilhaben lassen. Eines Trankes bedarf es bei Tilch nicht. Schließlich hätten Tristan und Isolde gemäß Thomas Manns berühmtem Postulat genauso gut Wasser trinken können. Hier kommen die beiden an der betreffenden Stelle an die Rampe und bleiben mit seitlich ausgestreckten Armen stehen, während hinten der Sprung der beiden in einen Abgrund projiziert wird – ein gelungenes Bild, das die Loslösung des sich dem Tode nahe glaubenden Paares von der Vorgeschichte symbolisiert. Hier wird eine kurze mentale Reise versinnbildlicht, die ganz woanders endet, als es Tristan und Isolde angenommen haben. Insgesamt wird in dieser Inszenierung Psychologie und Symbolik groß geschrieben. Auch Markes Klage wird davon geprägt: Als der schließlich verzweifelt zu Boden sinkende, glatzköpfige und dunkel gekleidete König schmerzvoll seinen Oberkörper entblößt, sieht man, dass dieser Wunden aufweist. Der starken inneren Blessur korrespondiert eine nicht minder schwere äußere.

Luca Tilch (Tristan als Kind), Annette Seiltgen (Isolde), Hans-Georg Wimmer (Tristan), Peter Tilch (Kurwenal)

Mehr auf die innere als die äußere Handlung legt Stefan Tilch im dritten Aufzug den Schwerpunkt. Hier stellt er Tristan ein kindliches Alter Ego an die Seite. Die Kindheit stellt die „Urebene seines Schmerzes dar“ (vgl. Programmheft), zu der Tristan zurückkehren muss, um die jüngste Vergangenheit bewältigen zu können. Er muss sich ihr stellen, was aber nicht sofort gelingt. Immer wieder entzieht sich der Knabe ihm. Erst später kommt es zu einer Vereinigung von erwachsenem und jungem Tristan. Der einsam durch den Raum wandernde alte Tristan visualisiert immer wieder Isolde, teils als Projektion, einmal aber auch körperlich. Es gehört zu den Höhepunkten der Produktion, wenn im dritten Aufzug während eines von Tristans Fieberausbrüchen in trefflicher Anwendung eines Tschechow’schen Elementes plötzlich Isolde auftritt, zu dem kleinen Tristan tritt, ihn umarmt und sich von ihm daraufhin von der Bühne führen lässt. Das Ende wird vom Regisseur auf beeindruckende Art und Weise umgedeutet. Gleich seinem großen Regiekollegen Peter Konwitschny begreift er Isoldes Liebestod positiv und lässt demgemäß nicht nur Tristan am Leben, sondern auch alle anderen im Kampf um Kareol umgekommenen Handlungsträger sich wieder erheben. Die Sektparty der nun gänzlich weiß gekleideten Schicky-Micky- Gesellschaft kann beginnen. Da am rechten Rand der Bühne aber immer noch das Tristan-Double sterbend im Kahn am Elektrokardiogramm liegt, ist nicht allzu schwer zu erraten, dass auch dieses glückliche Bild nur Isoldes Innerem entspringt. Es ist ihre Vision von einem Happy End, das man hier sieht – ein starkes Ende, das seine Wirkung nicht verfehlte. Insgesamt haben wir es hier mit einer rundum gelungenen, wirkungsmächtigen Neudeutung zu tun, die einen gewaltigen Eindruck hinterließ.

Auch die gesanglichen Leistungen bewegten sich größtenteils auf hohem Niveau. Es ist schon erstaunlich, was für phänomenale Kräfte das kleine Theater Niederbayern für die Hauptrollen aufzubieten hatte: Hans-Georg Wimmer hielt die kräftezehrende Partie des Tristan nicht nur routiniert durch, sondern hat ihr mit seinem sauber fokussierten, ausdruckstarken und differenziert eingesetzten Tenor auch vokal bestens entsprochen. Eine stattliche jugendliche Erscheinung war Annette Seiltgen als Isolde, die ihrem Part sowohl stimmlich wie auch darstellerisch in gleicher Weise hervorragend gerecht wurde. Ein intensives Spiel und eine makellose, gut gestützte und farbenreiche Tongebung mit sicheren Spitzentönen fügten sich zu einer trefflichen Einheit zusammen, die sch tief in das Gedächtnis einprägte. Mit in der Mittellage warmem und gefühlvollem Mezzosopran, der in der Höhe eine enorme Dramatik an den Tag legte, sang Anne-Theresa Moller eine auch schauspielerisch treffliche Brangäne. Ein prägnant intonierender Kurwenal war Peter Tilch. Sehr für sich einzunehmen vermochte der noch junge Stephan Bootz, der mit wunderbar leicht und elegant dahinströmendem, dabei warmem und sonorem Bass einen wunderbaren König Marke sang. Das war die beste Leistung des Abends! Etwas zu hoch verankert war der Tenor vom Albertus Engelbrecht in der Doppelrolle von Melot und des jungen Seemanns. Stimmstark, aber ebenfalls etwas maskig klang der Hirt von Christos Kechris. Einen soliden Steuermann gab Kyung Chun Kim. Als Kind Tristan gefiel Luca Tilch. Solide präsentierte sich am Ende des ersten Aufzuges der Herrenchor.

Fazit: Eine in jeder Beziehung gelungene, fulminante und preisverdächtige Aufführung, die dem Landestheater Niederbayern und allen Beteiligten zu großer Ehre gereicht. Bravo!

Ludwig Steinbach, 8.5.2016

Die Bilder stammen von Peter Litvai