Ljubljana: „Schwanensee“

Einhelliger Premierenjubel

Neuerlich bestätigt sich der Eindruck: es gibt in Laibach einen Ballettschwerpunkt – führt doch nicht nur die Laibacher Oper („Slovensko narodno gledališče Opera in balet Ljubljana“ – „Slowenisches Nationaltheater für Oper und Ballett Laibach“), sondern auch das Laibacher Konservatorium („Konservatorij za glasbo in balet Ljubljana“ – Konservatorium für Musik und Ballett“) das Ballett ausdrücklich im Namen. Das ist das Umfeld, das nicht nur Traditionen bewahrt, sondern auch ermöglicht, dass Laibach die großen klassischen Ballette in zeitgemäßen Interpretationen aufführen kann – und dass dann die Premiere übervoll mit vielen jungen Leuten ist, die sich auf den zusätzlich aufgestellten Stühlen im ausverkauften Haus drängen und die am Ende alle Ausführenden lautstark bejubeln.

Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“ wurde 1877 am Bolschoi-Theater in Moskau mit mäßigem Erfolg uraufgeführt – heute gilt die Choreographie von Marius Petipa und Lew Iwanow, die lange nach Tschaikowskis Tod im Jahre 1895 am Mariinski-Theater in St. Petersburg entstand, als jene maßgebliche Version, an der sich die Choreographen der neueren Zeit orientieren, sofern sie nicht eine völlige Neufassung zum Ziele haben. Laibach hat als Choreographin der Neuproduktion, die ausdrücklich auf dem klassischen Konzept von Petipa und Iwanow beruht, die renommierte Amerikanerin Lynne Charles engagiert. Lynne Charles war als Primaballerina die Muse der Choreografen-Legenden John Neumeier (Hamburger Ballett), Roland Petit (Ballet National de Marseille) und Maurice Béjart (Ballet of the 20th Century und Béjart Ballet Lausanne), die zahllose Rollen an ihr kreiert haben. Zudem war sie ständiger Gast beim English National Ballet und dem Birmingham Royal Ballet. Lynne Charles war die erste westliche Ballerina, die vom damaligen Kirov Ballet eingeladen wurde die Hauptrolle in den Klassikern Giselle und Don Quichotte zu tanzen.“ – das liest man über sie auf der Website ihrer Agentur. Lynne Charles war zweifellos eine Ikone des klassischen Balletts.

Klassisches Ballett – woran denkt man da? In neun von zehn Fällen sagt die Statistik, entsteht vor dem geistigen Auge das Bild von zierlichen Tänzerinnen in weißen schimmernden Tutus und von einem Prinz, der sich in ein Traumwesen verliebt. Und auch wenn einem gar nicht bewusst ist, woher dieses geradezu archetypische Bild stammt, es verkörpert auch noch nach 120 Jahren ganz einfach das, was klassisches Ballett ausmacht – selbst im Zeitgeist der Gegenwart. Lynne Charles stellt klassisches Ballett in einen aktuellen, filmisch inspirierten Rahmen. Die Bühnengestaltung übernahmen der russische Professor für Medienkunst (Karlsruhe) Vadim Fishkin gemeinsam mit dem slowenischen „visual artist“ Miran Mohar. Die Kostüme stammen von Uroš Belantič, einem slowenischen Schauspieler und Designer, der in Wien an der Universität für angewandte Kunst Mode studiert hatte. Die Ausstattung besteht im Wesentlichen aus Projektionen – schon während des Vorspiels wird das Orchester auf den Faltenwurf des Bühnenvorhangs gespiegelt – gleichsam als wellenförmige Einstimmung auf das Wasser als zentrales Lebens-und Todeselement des 2. und 4. Aktes. Projektionen fließenden Wassers beherrschen diese am See spielenden Akte. Die Ballszenen des 1. und 3. Aktes sind mit einer den Hintergrund abgrenzenden Tapetenprojektion und angedeuteten Kronluster-Elementen sparsam, aber praktikabel gestaltet. Das Konzept ermöglicht sehr gut den rasch-fließenden Übergang zwischen den Akten ohne jeglichen Bruch.

Vor etwa einem Jahr hatte an der Wiener Staatsoper „Schwanensee“ Premiere. Auch diese Produktion berief sich auch Petipa und Iwanow, baute allerdings auf eine bahnbrechende Interpretation auf, die vor über 50 Jahren Rudolf Nurejew in den Westen brachte. Sein Leitgedanke war damals die Aufwertung der männlichen Hauptrolle und ihre Gleichstellung mit der Partie der Ballerina. Lynne Charles geht in Laibach einen anderen Weg – bei ihr bleiben die Frauenfiguren im Zentrum des Geschehens. Das männliche Element – der Prinz als positive und der Magier Rothbart als negative Kraft – stirbt. Zurück bleiben am Ende die Schwäne, die wieder ihre weibliche Gestalt gewinnen – wohl gleichsam als das „Ewig Weibliche“, als das immer die Welt neu hervorbringende Element.

Und in diesem Sinne waren die Frauenfiguren tatsächlich die prägenden Persönlichkeiten des Abends.

Die Russin Olga Andreeva – früher selbst Odette/Odile – war eine ausdruckstarke Königin, die auch die Szene beherrschte, wenn sie nicht tanzte und bloß mit sparsamen Gesten, königlicher Haltung und anteilnehmender Mimik die Szene beobachtete. Die Prinzessin, die durch die Königin dem Prinzen zugedacht ist, interpretierte die Italienerin Rita Pollacchi kraftvoll-intensiv. Sie brillierte auch im Pas de Six und bei den kleinen Schwänen, wie ja überhaupt fast alle Mitwirkenden in mehreren Rollen des überaus personenreichen Stückes auf der Bühne standen. In späteren Aufführungen werden die beiden weiblichen Hauptgestalten Odile und Odette getrennt besetzt werden und dann wird Rita Pollacchi die Odile tanzen. Am Premierenabend war allerdings Odette und Odile mit einer Künstlerin besetzt. Als Gast gestaltete die Argentinierin Laura Hidalgo diese zentrale Figur, die wohl eine der anspruchsvollsten und anstrengendsten Rollen des klassischen Balletts ist. Es sind ja nicht nur zwei völlig unterschiedliche Charaktere darzustellen – der lyrisch-gute Weiße Schwan und der dämonische Schwarze Schwan – auch technisch werden höchste Ansprüche an die Tänzerin gestellt. Berühmt-berüchtigt sind wohl die zweiunddreißig Fouettés im dritten Akt. Wer an Vergleichen interessiert ist, findet auf Youtube eine Fülle von Aufnahmen mit diesem Bravourstück – hier ein Beispiel des legendären Mariinski-Ballets (ab Min. 5:09). Laura Hidalgo hat die Herausforderungen bravourös bestanden – man kann nur bewundernd das erleben, was unlängst in einem ausführlichen Interview mit einer der führenden Tänzerinnen unserer Zeit in der Frankfurter Allgemeinen so beschrieben wurde: „Das Ballerina-Dasein ist ein gelebter Widerspruch. Sie sehen so zerbrechlich aus, dabei sind Balletttänzer so zäh wie kaum ein Hochleistungssportler. Es geht dabei nicht um die eine Hundertstelsekunde schneller, höher oder weiter, sondern um einen Ausdruck, um eine Leichtigkeit, um Perfektion, die ebenso schwer zu erklären wie zu bekommen ist.“ Laura Hidalgo ist an diesem Premierenabend das gelungen, was alle großen Ballerinen anstreben – die Verbindung von höchster Körperbeherrschung und ein völliges Aufgehen in der dargestellten Rolle, sozusagen unter dem Motto „Wenn du nicht mehr du selbst bist, ist es perfekt“.

Aber auch die Herren-Partien waren durchaus profiliert besetzt. Der Serbe Petar Dorcevski war ein viriler Siegfried. Ich hatte den Eindruck, dass in dieser Choreographie eher seine Männlichkeit als seine königliche Abstammung betont wurde – vielleicht entstand der Eindruck auch deshalb, weil Siegfried nicht im oft für den Prinzen üblichen Weiß gekleidet war. Darstellerisch stand eher das verzweifelte Scheitern als das Adelige im Vordergrund – übrigens war das gemeinsame Ertrinken mit Odette in strahlendem Licht szenisch sehr schön und effektvoll gelöst. Der Japaner Juki Seki, der in späteren Aufführungen den Rothbart tanzen wird, war ein markant-repräsentativer Begleiter und Lukas Zuschlag ein dämonisch-dominanter Rothbart, der durchaus die Szene beherrschte, sobald er auftrat.

Ein pauschales Lob gilt den zahlreichen kleineren Rollen. Die vielen Ensembles vom Pas de deux über den Pas de Six bis hin zu den großen Divertissements und Ballszenen gelangen in großer Intensität und Präzision – man meinte, die intensive Probenarbeit geradezu zu spüren!

Die Musik Tschaikowskis wurde vom Orchester der Laibacher Oper unter dem Dirigenten Marko Gašperšič in sehr präzis-rhythmischem Zusammenwirken mit der Bühne gespielt, allerdings doch wohl allzu kräftig-zupackend, ja zeitweise geradezu grell-lärmend. Technisch sehr sauber und sicher gelangen die Violin-, Violoncello- und Harfensoli. An meinem Platz in der 11.Reihe Parterre klang aber auch da manches zu grob und zu wenig kammermusikalisch – und die Harfe schien mir unnötig elektronisch verstärkt. Mir fehlte insgesamt die melancholisch-resignative Süße, die Zartheit, ja die zerbrechliche Dekadenz Tschaikowskis.

Doch zum Schluss nochmals zurück zur szenischen Umsetzung:

Wenn ich oben ein Video und ein Interview mit einer anderen Primaballerina zitiert habe, dann ging es nicht darum, die Leistung, die an diesem Abend auf der Bühne in Laibach erbracht wurde, vergleichend zu messen oder zu werten, sondern es geht um den Versuch, jenen, die nicht dabei sein konnten, einen Eindruck der außerordentlichen Leistung zu vermitteln, die die Solisten und das gesamte Ensemble zustande gebracht haben. Das Wunderbare an jeder Live-Aufführung ist ja, dass die Interpretation nur im Hier und Jetzt zwischen Künstler und Publikum entsteht. Und darum sei zusammenfassend betont: für mich war es ein großer Abend der gastierenden Primaballerina, des gesamten Ballettensembles der Laibacher Oper, seines Jungensembles und der Verstärkung aus dem Konservatorium, die vom Publikum zu Recht begeistert akklamiert wurde. Auch die jüngsten Schwäne seien in dieses Lob ausdrücklich eingeschlossen – auf dem Foto sieht man sehr schön ihre erleichterte Freude über das Gelungene.

Hermann Becke, 18.4.2015

Szenenfotos: SNG OPERA IN BALET LJUBLJANA

Die Produktion ist noch bis Ende April in Ljubljana zu erleben und wandert dann weiter an das Teatro Giuseppe Verdi in Trieste – hier finden Sie die Termine.

Und daann noch der Hinweis auf ein stimmungsvolles Video über die Kostümherstellung in Ljubljana.