Lüneburg: „Die Zauberflöte“

Ein mozärtlicher Sommernachtstraum

Gleich im Einführungsvortrag zur Oper räumt Dramaturg Friedrich von Mansberg rigoros mit einem vermeintlichen Fakt auf: Wolfgang Hildesheimer irrte, als er in seinem 1977 erschienenen Buch mit dem schlichten Titel „Mozart“ schrieb, die Widersprüche und Unerklärlichkeiten in der „Zauberflöte“ seien dem Umstand geschuldet, dass der Komponist und sein Librettist während der Arbeit ihr ursprüngliches Konzept verworfen hätten. Inzwischen ist diese These seitens der Musikwissenschaft widerlegt. Und es gibt weitere, neue Erkenntnisse über die Bedeutung: Die Zauberflöte ist, mehr und eigentlicher noch als der „Parsifal“, ein „Bühnenweihspiel“ – sie ist „Theater im Theater“. Der Ägyptologe und Religionswissenschaftler Jan Assmann sieht sie als ein Initiationsritual, an dem nicht nur die Hauptprotagonisten der Oper teilnehmen, sondern auch die Zuschauer. Ergebnis und Ziel dieser Initiation ist der reife, verantwortlich handelnde, aufgeklärte Mensch – das Ideal der Aufklärung. Doch wenige Jahre nach der Uraufführung der Oper schon wird sich, erstmals am Beispiel der Französischen Revolution, zeigen, dass die humanistische Idee eine Utopie bleibt. Dass alle Menschen Brüder werden und Liebe unter ihnen herrscht, ist ein – schöner – Traum. Mozart hat ihn mit der „Zauberflöte“ allerdings in allerschönste Musik gefasst. Eine Musik, deren unvergleichliche Faszination auch darin besteht, dass sie, obwohl kompositionstechnisch sehr anspruchsvoll, für jedermann ganz leicht verständlich ist. Sie überwindet die Schranken zwischen den Generationen, zwischen den gesellschaftlichen Sphären. In der „Zauberflöte“ zumindest, und während wir sie im Theater hören, wird der Traum davon, dass alle Menschen Brüder werden, wahr. Bei aller Ernsthaftigkeit ist die „Zauberflöte“ aber auch und vor allem eins: ein großer Spaß, im Stile des damals populären Wiener „Kasperl- und Zaubertheaters“.

Die „Zauerflöte“ ist, mehr und eigentlicher noch als der „Parsifal“, ein Bühnenweihspiel

All diese Aspekte finden sich im klugen Inszenierungskonzept von Iris Ini Gerath wieder, und das Wunderbare daran ist, dass die hochkomplizierte Mischung der verschiedenen Bedeutungen des Stücks überaus harmonisch gelingt. Auch wenn er nicht weiß, dass er selbst Teil der großen Sache ist, wird der Zuschauer von Anfang an subtil in das Geschehen einbezogen: Die Darsteller singen und sprechen sehr häufig direkt zum Publikum, was jedoch nicht den Eindruck von statischem Rampentheater entstehen lässt, sondern bewirkt, dass die Schranke zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben ist. Der Zuschauer fühlt sich den Protagonisten der Oper buchstäblich nah. Und obwohl die Ausstattung (Barbara Bloch) im Wesentlichen werkgetreu ist (die wunderschönen, großformatigen Prospekte sind Repliken des Original-Bühnenbildes der Uraufführung der Oper), ist sie dennoch keineswegs antiquiert, sondern aufgrund bewusst gesetzter, fantasievoller Akzente sehr zeitgemäß. Der erfahrende Operngänger findet hier Bilder, die er mit Ästhethik und Anspruch des Werkes verbindet, während der junge Opernneuling Symbole aus seiner Welt identifizieren kann. So ist die Königin der Nacht im zweiten Teil der Farbe Schwarz huldigende „Gothic Queen“ mit Tatoo-verziertem Rücken. Im ersten Teil wirkt sie, noch dazu wie aus dem Hintergrund „gezaubert“, mit ihrem langen Silberhaar fast feen- oder elbenhaft. Und ein weiteres Zitat aus dem „Herrn der Ringe“ ließe sich entdecken: Schon durch die Art, wie er die Bühne betritt – aus seiner unterirdischen Höhle kriechend, sich auf allen Vieren geschmeidig fortbewegend, ein bemitleidenswert kahlköpfiger Nacktfrosch – erinnert Monostates an das „Gollum“. Beide sind sie betrogene Hüter eines „Schatzes“. Ganz nebenbei gelingt es durch diese Gleichsetzung, eine wichtige Erkenntnis über die „Zauberflöte“ zu vermitteln: Die Protagonisten sind keineswegs nur gut oder nur böse. Im „Herrn der Ringe“ ist „Gollum“ die einzige, und deshalb so zentrale Figur, die beide Charakteraspekte mitbringt, die nicht nur Schwarz oder nur Weiß ist.

Bemitleidenswert kahlköpfiger Nacktfrosch: Monostates erinnert an das „Gollum“ aus dem „Herrn der Ringe“

Sein „Gegenspieler“, über den Monostates fürchterlich erschreckt, beeindruckt in dieser Inszenierung ebenfalls durch erstaunliche Beweglichkeit. Seit jeher der Publikumsliebling und heimlicher Hauptprotagonist des Stücks, tritt Papageno geradezu als Aktionskünstler in Erscheinung, der sich bei seinem ersten Auftritt schwungvoll mittels einer Liliane in die Szene katapultiert und bei allen folgenden stets neue Formen buchstäblich rasanter Bühnenpräsenz ausprobiert. Er und die zum Klang seines Glockenspiels ebenso anmutig wie lustig tanzende Papagena (Choreographie: Heidrun Kugel) sind sprichwörtlich bunte Vögel – intuitiv lebende, lebenskluge Menschen, die aus der Situation heraus erwachsen werden (bezeichnenderweise denken die beiden in ihrem Liebesduett schon an zukünftigen Nachwuchs). Wer, wie die beiden anderen jungen Hauptprotagonisten, an die Themen Liebe und Erwachsenwerden theoretischer herangeht, kann aus dieser Inszenierung auch ein Initiationsritual herauslesen, nicht zuletzt aus den Kostümen: Als Pamina beschließt, den Geliebten bei seiner dritten Prüfung zu begleiten und dabei sogar zu leiten, trägt sie das blutrote Kleid einer jungen Frau – in der Zeit davor jedoch ein an geblümte Jungmädchen- und Prinzesschenhaftigkeit erinnerndes Outfit. Und die Tamino bedrohende Schlange, eine aus den drei Damen bestehende Hydra, ist amüsantes Bild dafür, dass der junge Mann mit Frauen zu Beginn der Handlung noch gar nichts anfangen kann, sich regelrecht vor ihnen fürchtet – und daher kluger Unterweisung bedarf: zunächst jener der als „mütterlich“ verstandenen Königin der Nacht, dann vom väterlichen Freund Sarastro. Sowohl Tamino als auch Pamina sind zunächst „ferngesteuert“ durch diese beiden, über alles herrschenden Erwachsenen. Sie führen Aufträge der „Eltern“ aus, leben noch nicht ihr eigenes Leben. Für dieses Phänomen gibt es einen Begriff: Avatar. Auch zu diesem kann, wer will, ein der heutigen Filmwelt entliehenes Bild finden: Als Pamina sich vom eisern schweigenden Tamino zurückgewiesen fühlt und darüber verzweifelt, scheint ihr Körper durch einen Lichteffekt plötzlich komplett blau gefärbt, was durch ein neongelbes Oberteil noch mehr ins Auge fällt. Noch hat sie nicht begriffen, dass Liebe bedeutet, am anderen Anteil zu nehmen, den Blick von sich selbst auf den anderen zu lenken. Noch ist sie kein echter, fühlender Mensch, sondern lediglich die Simulation eines Geschöpfs, das die Rolle des liebenden Mädchens spielt.

Erwachsenwerden ist nicht leicht: Tamino bedarf noch kluger Unterweisung

Die Idee, die Beziehung zwischen Königin der Nacht und Sarastro als gescheiterte Ehe aufzufassen, hat Ingmar Bergmann 1974 in seiner Verfilmung der „Zauberflöte“ ausgeführt. (Erstaunlicherweise ist Wolfgang Hildesheimer, der in seinem Mozart-Buch sehr viel aus tiefenpsychologischer Sicht erklärt, darauf nicht gekommen – wahrscheinlich aufgrund der irrigen Annahme, Mozart und Schikaneder hätten kein stringentes Werkkonzept verfolgt.) Und so ist es auch kein Zufall, dass sich der Vorhang in dieser Inszenierung noch während der Ouvertüre erhebt und ein Mann und eine Frau gemeinsam die Bühne betreten. Einem buchstäblichen altertümlichen Tempelstandbild gleichend, verharren sie nebeneinander, während sie den drei Knaben eine ägyptische Herrscherkrone emporreichen. Später wird sich mit Sicherheit herausstellen, was zu diesem Zeitpunkt nur zu mutmaßen ist: Es sind Sarastro und die Königin der Nacht, die sich uns als Paar präsentieren. Während Tamino, einen Reiseführer lesend, auf die Bühne schlendert und sich auf der rechten Bühnenseite im Schatten einer Säule niederlässt, scheint es fast, dass jene beiden eine Art Wette abschließen, und die Königin der Nacht setzt das dann folgende Spiel in Gang, indem sie auf die drei Damen, noch schlafend unter einem Säulenbogen links, zeigt. Doch das, was die Regisseurin hier meisterlich arrangiert hat, ist nicht etwa eine x-beliebige Ehe. Im Libretto ist vorgesehen, dass, als Tamino die geschenkte Zauberflöte erstmals ausprobiert, sich Tiere der Wildnis zahm und freundlich zu ihm gesellen. In dieser Inszenierung tauchen an dieser Stelle verschmitzt lächelnde Männer auf, die sich Tierköpfe aus Pappmaché aufsetzen und lustig zur Musik tanzen. Eine dieser Tiermasken ist ein Eselskopf. Der Esel ist kein Wildtier – und bekannt sind er und dieses merkwürdige Schauspieler-Trüppchen uns aus einem ganz anderen Stück, in dem „Theater im Theater“ stattfindet. Mozarts „Zauberflöte“ als Shakespeares „Sommernachtstraum“ zu verkleiden, ist mehr als nur ein überaus genialer Regie-Einfall. Denn nur durch diesen Kunstgriff gelingt es, die humanistische Utopie des Stücks auch auf der Bühne zu realisieren. „In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht“, singt Sarastro zwar – am Ende muss er jedoch, dem Libretto zufolge, die Königin der Nacht und ihr Gefolge vernichten. Am Ende dieser „Zauberflöte“ legt Sarastro versöhnlich den Arm um seine Gegenspielerin, umringt von beider glücklicher Gefolge. So wie am Schluss des „Sommernachtsraums“ Oberon und Titania nach ihrem Traumspiel Frieden schließen und die jungen Liebenden mit den Worten mahnen „Jedes dieser Paare sei / ewiglich im Lieben treu / ihr Geschlecht soll nimmer schänden / die Natur mit Feindeshänden / und mit Zeichen schlimmer Art“ – so wird die Herrschaft von Friede und Liebe in dieser „Zauberflöte“ tatsächlich wahr.

Diese drei Damen können noch ganz anders gefährlich werden – sie sind auch die Schlange, die Tamino verfolgt

Dass die Zärtlichkeit der Liebe nicht nur zu sehen ist, sondern tatsächlich hörbar wird, liegt daran, dass Trompeten, Hörner und Pausaunen auf historischen Instrumenten, also ohne Ventiltechnik, spielen. Dadurch gelingt es den Lüneburger Sinfonikern, einen besonders weichen, regelrecht „mozärtlichen“ Klang hervorzuzaubern, unter der klugen, engagierten und präzisen Leitung von Thomas Dorsch.

Die besondere Herausforderung der „Zauberflöte“ besteht immer in den geradezu höllisch schwierigen Partien der Königin der Nacht. Ruth Fiedler , die diese Rolle auch wunderbar verkörpert, bringt sie hinreißend zu Gehör, gleichermaßen überlegt-exakt und leidenschaftlich. Franka Kraneis verleiht Pamina gesanglich und darstellerisch liebenswerte Frische und Unbefangenheit, Christian Oldenburg singt und spielt sich als munterer Papageno mit überaus komischer Begabung in die Herzen des Publikums, Anja Elz als Papagena überzeugt in jeder Hinsicht als seine Traumfrau, Timo Rößner bringt den Monostatos stimmlich und darstellerisch buchstäblich gewandt nahe. Die im Vergleich zu diesen „auffälligen“ Charakteren eher „ruhigen“ Rollen werden ebenfalls darstellerisch und gesanglich hervorragend gemeistert (Arthur Pirvu als Sarastro, Karl Schneider als Tamino, Ulrich Kratz als Sprecher).

Das Publikum war von Beginn an ganz und gar vereinnahmt und vereint vom bezaubernden Bühnengeschehen. Am Schluss belohnte es alle musikalischen Beteiligten und das Regie-Team verdientermaßen mit Ovationen.

30.6.2014 Christa Habicht

Sämtliche Fotos: Andreas Tamme