Gelsenkirchen: Wider das Vergessen

Selbstbildnis 1941

Am 16.April 1917 wurde Charlotte Salomon (Tochter des Chirurgen Professor Albert Salomon) in einer jüdischen Familie geboren. Sie wuchs in Berlin auf. Nach dem Selbstmord ihrer Mutter 1926, der ihr als Krankheit erklärt wurde, bis zur erneuten Heirat ihres Vaters 1930 mit einer Konzertsängerin (Paula Lindberg), übernahmen im großbürgerlichen Familienhaushalt Kindermädchen ihre Erziehung. Von 1927 an besuchte sie eine Schule für höhere Töchter in Charlottenburg. 1933, ein Jahr vor dem Abitur, brach sie die Schule ab um den antisemitischen Nazi-Terror zu entgehen. Da ihr Vater als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges anerkannt war, wurde sie 1935 an der heutigen, als "Universität der Künste" bekannten, Hochschule aufgenommen. Zwei Jahre später, nachdem ihr bei einem dortigen Wettbewerb der erste Platz, der ihr eigentlich von der Jury zuerkannt werden sollte, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft versagt blieb, verließ sie das Institut.

Im Januar 1939 emigrierte Charlotte Salomon nach Villefranche-sur-Mer zu ihren Großeltern, die dorthin bereits 1934 geflohen waren. Ein Jahr später besetzten deutsche Truppen Frankreich. Am 22. Juni unterschrieb Marschall Pétain einen Waffenstillstand mit Deutschland; er versprach die Auslieferung von 200.000 Juden an die Gestapo. Charlotte Salomon und ihr Großvater (ihre Großmutter hatte sich im März das Leben genommen) wurden vorübergehend interniert, kurze Zeit später jedoch wegen des hohen Alters des Großvaters wieder freigelassen.

Verzweifelt und um die Ereignisse zu verarbeiten, begann sie (auf ärztliches Anraten) erneut zu malen. Im Juni 1943 heiratete sie den österreichischen Emigranten Alexander Nagler. Nach der Besetzung Südfrankreichs durch deutsche Truppen 1943 wurden sie und ihr Mann verraten und zurück nach Deutschland in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Charlotte Salomon, im fünften Monat schwanger, wurde sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet. Ihr Ehemann starb an den Folgen der Haftbedingungen.

Zwischen 1940 und 1942 entstanden binnen 18 Monaten 1325 Gouachen expressionistischen Stils. Etwa 800 Blätter im Format 32,5 x 25 cm hat Charlotte Salomon ausgewählt und nummeriert. Zusammen mit erläuternden Texten und Hinweisen auf Musikstücke dokumentiert sie unter dem Titel "Leben? Oder Theater?" ihre Memoiren. Das Werk ist in seinem Aufbau einem Theaterstück mit allen seinen Bestandteilen in Akten und Szenen vergleichbar.

Daß die Ballettdirektorin und Choreografin Bridget Breiner die Hauptrolle in dieser WA nun selber (Premierenbesetzung: Kusha Alexi) tanzt, machte den Abend zum originären Ereignis. Es ist ein Genuss der besonderen Art diese Weltklasse-Tänzerin zu erleben; hier ist jede noch so kleinste Bewegung feinster Tanzausdruck und Ballett-Kunst höchsten Ranges. Ihre tänzerische Präsenz ist geradezu überwältigend. Ob in der Bewegung von Schritten, Sprüngen oder Drehungen oder in teils statuarischer Position des Liegens oder Sitzens – alles ist von höchst ästhetischer Qualität.

Über eine legendären Primadonna des Gesangs sagte einst ein Kritiker "bevor sie den ersten Ton überhaupt gesungen hat, ist sie schon erschütternd beeindruckend". Mir geht es bei dem Tanzgenius Breiner ähnlich; sie braucht eigentlich gar nicht zu tanzen; so wie sie sitzt, liegt, die Arme streckt, anwinkelt, den Kopf dreht, aufsteht oder sich rollt – alles ist ganz großer Ausdruck, ergreifendes mitreißendes Tanztheater auf allerhöchstem Niveau.

Diese Ausnahme-Tänzerin ist ein Juwel stilisierter exemplarisch einnehmender Bewegungssprache. Ihr Ausdruck ist überwältigend in jeder Sekunde. Eine Maria Callas des modernen zeitgenössischen Tanzes – eine Ikone fürs Musiktheater im Revier. Eine Persönlichkeit, die man mit Ehrenpreisen eigentlich überhäufen müsste, und die – nach dem Deutschen Theaterpreis 2013 – nun für dieses ungeheure Stück Deutscher Vergangenheitsbewältigung bzw. Rehabilitierung vergessener Künstler eigentlich das Bundesverdienstkreuz bekommen sollte.

Michelle Dibucci hat für diese Choreografie eine meisterhafte, collagenartige Musik von hoher Qualität komponiert, wobei nicht nur klassische Melodien und Textzitate von Weber (Freischütz), Bizet (Carmen) oder Orpheus und Eurydike (Gluck) einfließen, sondern auch Live-Gesang in Chor und Solopassagen sehr treffend integriert werden. Die Klangeffekte balancieren vom großen Schlagwerk über Clusterhaftes bis hin zu durchaus Melodiösem. Eine aufregende, sich aber voll und kreativ in die Choreografie einfügende, tolle Orchestrierung bei der die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen unter Valtteri Rauhalammi sich glänzend aufgelegt zeigten.

Das gesamte Ensemble hier noch einmal incl. Bühnenbild, Kostümen und Videoprojektionen differenziert zu würdigen, sprengt den Rahmen dieser Nachfolgekritik. Immerhin wurde das Stück auf allen Ebenen (auch bei uns) ja in den Premierenkritiken mehr als ausführlich gewürdigt. Schön zu erleben, daß auch die Wiederaufnahme dieses Tanztheaterabends vom fachkundigen Gelsenkirchener Publikum stürmisch braviert und zurecht enthusiasmisiert bejubelt wurde.

Peter Bilsing 12.10.15

Bilder: MiR / Charlotte Salomon Foundation / Bridgetbreiner.com

P. S.

Mal wieder eine sensationelle Theaterproduktion auf einer unserer großartigen 50 landesweiten NRW-Bühnen, welche video-aufzeichnungswürdig ist, aber von unserem stets ominpräsent Landessender WDR mit all seinen Krakenarmen und Spartenprogrammen in gewohnter Ignoranz und Schlafmützenmanier übersehen wird. Leider finden weiterhin bedeutende Theaterabende unserer Landeskultur im Dunstkreis des alltäglichen lokalen Dümmlings-TVs von Koch-, Talk-, Tier- und Ratesendungen (trotz anderslautender Formulierungen im Landesrundfunkgesetz!) immer noch keinen Freiraum. Ich finde das mehr als beschämend. Vielleicht erbarmen sich ARTE oder 3-SAT ja noch dieses archivierungswürdigen Großereignisses. Die Hoffnung stirbt zuletzt…

Leider nur noch zwei weitere Termine: 18.Oktober / 20.November