Gelsenkirchen: „Der Tod und die Malerin“, Charlotte Salomon

Blaue Obsessionen im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen hat eine unverwechselbare Signatur: Das Blau der Schwammreliefs von Yves Klein, die Gallionsfigur der Partei der blauen Patrioten. Mit Blau tanzte, malte, sang und assoziierte jetzt das Ballett des Musiktheaters Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin, das am vergangenen Samstag in Gelsenkirchen seine gefeierte Uraufführung erlebte.

Die Inszenierung von Bridget Breiner reflektiert die Blau-Signatur des Musiktheaters im Revier mit einer frappierenden Tiefenschärfe. Der blau changierende Vorhang weckte Assoziation zu den filmischen Eingangsbildern von Blue Velvet von David Lynch. Umhüllt vom Yves-Klein-Blau des Hauses, war es, als ob die Obsessionen von Lynchs Blue Velvet über Kleins Spiritualität des Blaus eine direkte Linie zu den Bildern auf blauen Grund von Charlotte Salomon zögen. Widergespiegelt im taubenblauen Kleid der Charlotte als auch in der blau geränderten Jacke von Daberlohn alias Alfred Wolfsohn, signiert die Farbe Blau Charlotte Salomons Obsessionen in einem Farb-Sing-Spiel zwischen Traum und Traumata.

Es wird die Lebensgeschichte von Charlotte Salomon, einer 1917 in Berlin geborenen jüdischen Künstlerin, erzählt. Grundlage dafür sind 769 Gouachen, die sie 1941/42 in Südfrankreich bei ihren Großeltern in Erinnerung an ihre Berliner Jahre gemalt hat. Dort, wohin sie vor den Nazis emigrierte, malte sie sich mit intensiver Leidenschaftlichkeit durch ihre tragische Familiengeschichte. Es ist eine Geschichte, die von Selbstmorden der Frauen ihrer Familien frühzeitig überschattet wurde. Sie selbst stemmte sich mit lebensbejahendem Mut gegen dieses Menetekel. Allein dem Schicksal konnte sie nicht entgehen. 1943 wurde sie im KZ Auschwitz ermordet.

Es scheint im Rückblick so, als ob sie geahnt hätte, dass ihr nicht viel Zeit bleiben würde, auf eine glückliche Zukunft zu hoffen. Künstlerisch hochsensibel veranlagt, war sie im Bann des Todesschattens von Mutter, Stiefmutter und Großmutter Gefangene ihrer Gefühle und Phantasien. Als sie durch den Großvater erst spät die suizidale Wahrheit erfuhr, war sie dem Wahnsinn nahe. Möglich, dass sie sich auch gerade dann, wenn es ihr besonders schlecht ging, der Worte ihres verehrten und geliebten Gesangspädagogen ihrer Stiefmutter Alfred Wolfsohn erinnerte: Ich halte Sie für berufen, über den Durchschnitt etwas schaffen zu können.

Ihr Gouache-Zyklus „Leben? oder Theater?“ war deshalb mehr als nur ein malerischer Befreiungsakt. Dadurch, dass sie die Blätter mit Texten und Spielanweisungen versah, waren sie per se schon dramaturgisch konnotiert. Eigentlich wartete das Material, das Salomon kurz vor ihrer Verhaftung einen französischen Freund mit den Worten Heben Sie das gut auf, es ist mein ganzes Leben! übergeben konnte, nur darauf, für die Bühne entdeckt zu werden.

Die amerikanischen Komponistin Michelle DiBucci hat diese Entdeckung als Reproduktionen vor Jahren in einem New Yorker Antiquariat gemacht. In Zusammenarbeit mit der Tänzerin und Choreografin Bridget Breiner (seit 2012 auch Direktorin des Balletts am Musiktheater im Revier) ist ein Ballett-Inszenierung entstanden, die vom ersten Moment an eine atmosphärische Dichte und Spannung erzeugt, der man sich nur schwer entziehen kann.

DiBucci hat eine einfühlsame, dem Erzählen verpflichtete Musik komponiert, die sich nicht mit falsch verstandenen, avantgardistischen Ambitionen in eine hochtönende Sackgasse verläuft. Harmonische Linien des Orchesters, sparsam dosierte Text- und Sound-Collagen sowie solistischer und chorischer Gesang, musikalische Zitate wie die Habanera aus Georges Bizets Oper Carmen schaffen einen Klangraum, in dem die Tänzer und Tänzerinnen die Geschichte Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin nonverbal mit der Ausdruckskraft ihrer Körper erzählen.

Die Choreografie von Bridget Breiner exemplifiziert keine hohe Schule des klassischen Balletts mit Spitzentanz und Pose. Ballet-Compagnie und Solisten tanzten mit emotionalem Ausdruck in ungemein physischer Präsenz, der es, wie der in den Zuschauerraum hineinragende Laufsteg schon andeutete, darum geht, eine Brücke zum Alltag der Zuschauer zu schlagen. Kein artifizielles Ausstellungsballett, sondern das Aufblättern eines lebendigen Kaleidoskops. Körperbetonter Tanz mit überzeugender, narrativer Gestik, die sich in phantasievollen, ausdrucksstarken Bildern zu Schönheit in ästhetischer Brillanz vereinigte.

Manche Tanzsequenzen erinnerten an Bilder in der Ausstellung Das nackte Leben. Bacon, Freud, Hockney und andere. Malerei in London 1950 – 80, die noch bis zum 22.Februar 2015 in Münster zu sehen ist (vgl. Kritik Das nackte Leben aus Sicht der London School, zu sehen im neu eröffneten LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, vom 14.01.2015, veröffentlicht auf Peter E. Rytz Review). Die choreografierten Passagen in Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin hatten eine ästhetische Reflexionstiefe, wie sie auch in der qualvollen Bedrängnis der Bilder Das nackte Leben zu spüren ist.

Die Bühne ist als Projektionsraum gebaut, in dem die malerischen Vorlagen von Salomon in assoziative Raumbilder transformiert werden (Bühne: Jürgen Kirner; Projektionen: Philipp Contag-Lada; Lichtdesign: Bonnie Beecher). Wo sie zusammen mit angedeuteten Fensterrahmen projiziert werden, werden sie zu metaphorischen Albtraumbildern, die Charlotte Salomon ein Leben lang verfolgt haben. In Erinnerung an die frühen Jahren bestimmen wechselnde Bilder, gezoomt oder in Ausschnitten, die Projektionen. Als am Ende nur noch die Erinnerung bleibt, werden sie im Zeitraffertempo in einer Wolke am (Bühnen)Himmel projiziert. Die Bilderfolge eines hoffnungsvoll gestimmten Lebens, trotz alledem. Du musst wissen, ich kann auch küssen.

Die Schweizer Tänzerin Kusha Alexi tanzte Charlottes Todes- und Wahnsinnsfurien in einer berührend sensiblen Balance von Aggressivität, Widerstand und stiller Resignation. Als am Ende andere Emigranten Südfrankreich verließen, stand sie leer und ausgebrannt abseits. Ein Bild, als würde sie sich selbst ungläubig über die tief nach unten gezogenen Schultern beobachten.

Vor der brutalen Übergröße des Großvaters, der Charlotte nicht nur nicht schützen wollte, sondern sie in Verzweiflung allein ließ, wehrte sie sich in einem furios choreografierten Pas de deux gegen den Tod (Jonathan Olivier).

Abschluss des Balletts Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin und neben dem großartig temperierten Großmutter-Solo von Rita Duclos auch gleichzeitig Höhepunkt eines ambitionierten Gesamtkunstwerks. Chapeau, MIR!

Peter E. Rytz 17.2.15