Neuss: „Gefallene Engel“

Eine musikalische Spurensuche von Linda Riebau / Alexandra Engelmann

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"Die Ängste und Sehnsüchte von uns Künstlern sind auch heute noch immer dieselben. Wir geben alles von uns dem Publikum preis und finden im Scheinwerferlicht Himmel und Hölle zugleich“, sagt Regisseurin Linda Riebau und zeigt damit auch den Roten Faden ihres Stücks auf. Exemplarisch skizziert man episodenhaft am Beispiel von fünf Mega-Stars, die alle von ihren Fans wie Engel verehrt und zelebriert wurden (Amy Winehouse, Billie Holiday, Judy Garland, Marilyn Monroe und Whitney Houston), ihr Lebens-Unglück, die bösen dunklen Seiten des Showbusiness, die sonst niemand sieht und welche sie letztlich ruiniert haben.

Die tiefe menschliche Tragik, die sich oft im Leben von Schaupiel- oder Schlager- Legenden im Hintergrund abspielt, wird hier in den Bühnen-Vordergrund eines kongenial aufgebauten Bühnenstücks platziert; hautnah werden im klerinen Studio des RLT Schicksale nachvollziehbar; Impressionen jener Vita von fünf ausgewählten Diven, die Millionen begeisterten, aber mit ihrem eigenen Leben nicht zurecht kamen. In schon fast blitzlichtartigen Momenten der Rückblende, des sich Erinnerns erleben wir "rise and fall" von Frauen, deren Schicksal wir nun fast schmerzvoll nachempfinden können. Wenn so etwas gelingt, dann ist das großes Theater!

Die zitierten und wirklich formidabel von den Akteuren gesungenen Stücke (Alles Welthits) sind Hilfeschreie gequälter Seelen. Wir blicken hinter das Rampenlicht, wo sich Abgründe auftun.

Alle wollen wir doch nur geliebt werden und müssen solche Opfer bringen! Wer wusste z.B. daß Marilyn Monroe 12 Abtreibungen hinter sich hatte, oder daß die Entwicklung von Judy Garland als Pubertierende durch Medikamente und an Folter erinnernde Zwangskleidung vom Studioboss Louis Burt Mayer manipuliert wurde, damit ihre Rolle im Zauberer von Oz auch glaubwürdig wirke. Sie musste kindlich strahlen und leuchten, wie der Regenbogen in ihrem Song "Somewhere over the rainbow". Man hört das Lied plötzlich mit anderen Augen und Seelenpein.

Und wir werden belehrt über die sozialen Rahmenbedingungen von einst:

„Mit dem Produzenten schlafen, um an eine Rolle zu kommen? – Ha! Du musst erst mal mit vielen anderen schlafen, um überhaupt an den Produzenten ranzukommen."

Hollywood hat sich seit der Stummfilmzeit nie verändert. Prämissen, die weiterhin gelten. Die Studiobosse waren die Kaiser, die Produzenten die Könige und die Agenten die Edelmänner – aber alle eint eines: sie waren Herrscher mittels der Besetzungscouch. Das gibt es natürlich heute alles nicht mehr…

Kleine kurze Sätze enthüllen große menschliche Tragik, wobei die Stars nicht notwendiger Weise chronologisch abgehandelt werden, weil die Momentaufnahmen stellenweise auch austauschbar sind. In diesem Zusammenhang bekommt dann ein Song wie "Smile" (der ursprüngliche Welthit von Charly Chaplin) von Judy Garland gesungen schon leitmotivisch desavouierenden Charakter. Es ist jenes "Smile" welches uns mit den legendären Wort "showtime!" von Bob Fosse in ALL THAT JAZZ geradezu anspringt, oder von der großen Gloria Swanson in SUNSET BOULEVARD evoziert wird, wenn die Scheinwerfer angehen und sie die große Treppe herunter schreitet im scheinbaren Rampenlicht. Smile, wenn Du eigentlich weinen möchtest.

"I wanna be loved by you" sind Marilyn und dann wird jene Sexbombe, als die sie letzten Endes vermarktet wurde, obwohl sie stets ernsthaft Schauspielerin sein wollte, wieder zum kleinen Kind "My heart belongs to Daddy". Das schmerzt und ergreift auch die Zuschauer. Das ist sie, diese Dramaturgie von großem Raffinement, die subtil und spannungsvoll das ganze Stück trägt. Bravo!

Und immer wieder geht es um die Liebe, um die wahre Liebe, die sie alle sich so tief von Herzen wünschten und doch nie erreichten, jene "Greatest love of all", welche Whitney Houston so ehrfurchtsvoll besang und doch letztlich so wenig davon ab bekam, wie auch Billie Holiday in "The man I love" oder Jahrhundertsängerin, the Eternal Amy Winehouse in "Back to black" wo es heißt "I died a hundred times".

Und wenn dann im großen Finale Rainer Scharenberg (Daphne) in einer trefflichen deutschen Übersetzung den Holiday Welthit "All of me" so bestürzend trotzig, wie auch deprimiert und anklagend schon fast mehr herausschreit, als singt, dann ist das empathische Publikum am Ende des Stücks nicht nur erschüttert, sondern auch zu Tränen gerührt; ein wirklich ergreifendes Finale, quasi das Fazit des Abends. Ein toller Schluß-Coup!

Das Bühnenbild von Maik Claßen packt das große Künstleruniversum in ein bürgerlich kleines Zimmer mit Bett, Toilette, Dusche und Badewanne, wobei die wenigen Requisiten so brillant wie einfach zu ganz großen Bildern gerieren und in einer Vielfalt, Originalität und Absurdheit immer wieder so genial wie faszinierend in die Handlungsdramaturgie eingebaut werden. Was da alles auf dieser kleinen Zauberbühne passiert ist, unglaublich und zeugt von hohem Können und superber handwerklicher Beherrschung des Bühnenhandwerks. Auch die fabelhafte Lichtregie und die simplen, aber ganz wichtigen Kostümdetails (Alide Büld) sind wunderbar gelungen.

Um das alles so eindrucksvoll über die Bühne zu bringen und so hautnah in dem kleinen Studio erlebbar zu machen, braucht es große engagierte und vielseitige Schauspieler. Das sind Alina Wolff, Rainer Scharrenberg & Richard Lingscheidt, die die nicht nur herausragend agieren bzw. überzeugend singen, sondern wie in diesem Glücksfall alle auch noch ein Instrument spielen können. Dann erweitert sich das musikalische Basisduett (Christina Schumann und der quasi GMD des Ganzen Sebastian Zarzutzki am E-Piano) zu einer überzeugenden 5-er Band. Logisch, daß man dann dem begeisterten Publikum auch nach Ende des eigentlichen Stücks noch drei Zugaben mit auf den Nachhause-Weg gibt; stimmungsvoll, sentimental und nachdenklich schön ausgewählt, wo bei man auch dann der Linie des Stücks noch treu bleibt. Klatschen Sie ruhig zwischendurch, aber zerklatschen Sie, verehrte Theaterfreunde, das Stück bitte bitte nicht!

Großes Musiktheater im "kleinen" Neuss – Weltbühne im Studio.

Peter Bilsing 16.5.2017

Bilder (c) Björn Hickmann / Stage Pictures

P. S.

Einen Opernfreundstern zusätzlich und ein ganz besonderes Lob an die Pressestelle des Theaters, denn man hat mit viel Fleiß und Liebe auf der

Stückseite im Internet des RLTs auch noch alle (!) gesungenen Songs zu den Original-Liedern (TUBE sei dank) verlinkt und zu jedem Star ebenfalls einen wichtigen Artikel abrufbar offeriert. Das ist vorbildlich und ersetzt perfekt das Programmheft, welches man zeitgemäß nun wirklich nicht mehr braucht ;-).