Neuss: „Alice im Wunderland“

Kleine Tänzer ganz groß

Nach drei Jahren Planung und fast zweijährigen Proben war es am Samstag endlich wieder soweit. Das neueste jener, unter Kennern schon als legendär zu bezeichnenden, Ballettereignisse von Choreografin Greetje Groenendijk

hatte Premiere – wieder im wunderschönen Rheinischen Landestheater in Neuss; einem viel zu wenig beachteten Kleinod von Theater, denn man sitzt nicht nur bequem und heimelig, sondern es ist auch eine demokratische Sichtweise (durch die enorm ansteigenden Reihen) für Zuschauer jedweden Alters und diverser Körpergrößen gegeben. Man darf den "Nüsser" Stadtoberen zu diesem Prachtbau, gebaut 2000, immer noch gratulieren.

Das tolle vielseitige Programm an überwiegendem Sprechtheater – wg. der gelungenen Akustik bedauere ich es sehr, daß es keinen, wenn auch nur kleinen, Orchestergraben gibt, denn wie wunderbar könnte man dort auch Musiktheater und überschaubare Kammeropern präsentieren; auch für kleinere Konzerte ist das Theater meiner Meinung nach wg. der guten Akustik ideal.

Doch kommen wir zum Musiktheater – Untergattung "Ballett". Natürlich hat man dort kein eigenes Tanzensemble, aber wie wunderschön ein richtiges Handlungsballett sein kann (welches man ja am Operhaus der benachbarten Landeshauptstadt schon lange als "antiquiert" abgeschafft hat!) präsentierte Greetje Groenendijk mit ihrem fabelhaften Team und den rund 200 beteiligten Tänzern von 4 bis 50 Jahren am Wochenende geradezu exemplarisch.

Nein, liebe Ballettfreunde! Das ist kein Kinderballett, wie wir es alljährlich meist zur Weihnachtszeit in den vielen fleißigen Ballettschulen des Landes überall finden, wo man dann den stolzen Eltern den aktuellen Leistungsstand präsentiert. Wir sprechen hier über richtig großes, schon durchaus professionell anmutendes, Tanztheater mit erstaunlichem, liebevoll präsentierten Unterhaltungswert. Der Begriff "Ereignis" scheint mir als umtriebigem Opernkritiker, nicht zu hoch angesetzt. Die Kleinen und Großen geben alles. So eine Aufführung ist das Abenteuer ihres Lebens und wer es einmal als Aktiver miterlebt hat und quasi Theaterblut nicht nur gerochen hat, wird den Wert von Theater ein Leben lang schätzen, und die Leistungen der Künstler (egal an welchem Haus) immer respektvoll bewerten und stets mit Ehrfurcht und Freude betrachten.

Wer es nicht selber erlebt hat, weiß kaum welche unendliche Arbeit, die niemals zu bezahlen ist, dahinter steckt. Für solche Produktionen muß man ein Herz haben; nicht nur ein Herz für Kinder. Man muß Ballett, Tanzchoreografie, Musik, Bilder, Rhythmen, Melodik und vor allem die Menschen lieben, damit ein solches grandioses Gesamtkunstwerk letztendlich dabei heraus kommt.

Dabei sind es oft die kleinen Momente der Unperfek

tion, die in Erinnerung bleiben. Ich denke da – pars pro toto – an den kleinen Frosch, dessen Bühnenleben scheinbar an der kleinen "Flosse" hängt, die sich von seinem Ballettschläppchen gelöst hat und dessen Bestreben es nur noch ist das Accessoire irgendwie wieder zu befestigen, während die Truppe auf ihn aufläuft bzw. zum Stehen kommt und Ballettdirektorin sowie Gruppen-Trainerin (wahrscheinlich dem Herzinfarkt nahe) ihm permanent zurufen "Vergiss es! Lass es! Mach einfach weiter, als sei nichts geschehen!" Natürlich vergeblich, denn an diesem Requisit hängt ja förmlich sein Leben…

Oder nehmen wir das kleine Vögelchen in der Gruppe der 4-5 Jährigen – welches vorne an der Chorus-Line ganz dezent seinen lieben Eltern im Publikum blinzelnd zuwinkt, dabei aus der Linie ausschert und vergisst, daß seine Truppe sich schon wieder weiter nach hinten bewegt. Da steht es nun kurzzeitig traumverloren in dieser wunderbaren Märchenlandschaft vorne an der Rampe und hat die Gesamt-Choreografie völlig aus den Augen verloren. Schnell huscht es hinterher und bekommt sogar Sonderapplaus vom mitfühlenden Publikum.

In der Pause sprach mich eine Dame an und fragte "Welchen Sponsor haben die denn; diese Kostüme müssen doch ein Vermögen kosten!?" In der Tat (!) lägen alleine die Kostümkosten (man rechnet an einem großen Opernhaus z.B. mit rund 2000 Euro pro handgefertigtem Kostüm heutzutage) im durchaus 6-stelligen Bereich, wenn es nicht die zwei unsichtbaren Zauberfeen, die selbstlos kreativen wunderbaren Damen der goldenen Nadel und des bunten Zwirns gäbe.

"and the oscar goes to"

Inge Grothe-Rosenberg & Ingrid Liebrecht, welche mit viel Fantasie, kreativem Zuschnitt, künstlerischem Theaterblick und einem gigantischen Arbeitsaufwand die optische Brillanz der Aufführung – es ist schon fast eine Kostümorgie – so trefflich "oscar-reif" gestalten. Dabei sind es oft nur kleine Tricks und Kniffe optischen Know-Hows des Schneiderhandwerks und der Verwendung facettenreicher Applikationen, die schließlich auf der Bühne im Scheinwerferlicht so wunderbar effektvoll aussehen, als stände ein unerschöpfliches Vermögen für deren Gestaltung zur Verfügung. Kostüme, die uns träumen lassen. Kostüme, welche die märchenhaft mirakulöse Traum- und Fantasiewelt von Carrolls Alice und seiner Figuren erst greifbare Gestalt verleihen.

Vergeben wir den zweiten Oscar an Steffi Proboszcz für ihre über 50 liebevoll und märchenfantasiereich handgezeichneten Bilder, die das sich ständig in tollen Projektionen verändernde Bühnenbild zieren. Eine solche Bühnenbildpracht steht denen in ganz großen Theatern wirklich in nichts nach. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, daß man so schöne und handgezeichnete Bühnenbilder zumindest im aktuellen Bühnenalltag nirgendwo zu sehen bekommt. Brava!

So wichtig wie das Bühnenbild ist für einen großen Ballettabend die Zusammenstellung der Musik, die wiederum mit der Choreografie untrennbar verbunden ist. Greetje Groenendijk

hat es mal wieder geschafft aus einem Konglomerat von romantischer Klassik, schöner Filmmusik, Kinderliedgut und sogar altem Schlager einen Background für ihr Werk zu schaffen, der nicht nur in atmosphärischer Dichte, sondern auch durch melodiöse Schönheit die Handlung umschlingt. Dabei ist ihre Choreografie bis aufs Feinste musikalisch ausziseliert; jeder noch so kleine Schritt, jeder Sprung, jede Drehung, jedwede Attitude und Pirouette, ob im Ensemble oder beim Pas de Deux bzw. Solo, alles korrespondiert aufs Trefflichste mit der Musik. Was für eine Heidenarbeit. Künstlerisch praktisch unbezahlbar!

Last but not least geht noch ein Lob an Thomas Diek & Christian Escher (Licht) und Fredo Helmert (Ton) für ihre professionelle Bühnentechnik und an die tollen fleissig rührigen, alles begleitenden Co-Choreografinnen: Jasmin Eskandari, Patricia Slachmuylders, Selina Köse & Karolin Hippe.

Man verzeihe mir, daß ich bei diesem Gesamtkunstwerk und der grandiosen Teamleistung auf Einzelbewertung und persönliches Lob mancher Künstler ad persona verzichte, ich möchte niemanden – obwohl es viele verdient hätten! – besonders herausheben, muß aber dennoch die fabelhafte Titelfigur in der Gestaltung von Judith Elisabeth Schütze (Bild oben) noch erwähnen. Was diese junge Dame, die ja praktisch über drei Stunden ominpräsent sein muß an Tanzschritten und permanenter Ausstrahlung über die Rampe bringt ist schon bewunderns- und ausdrücklich erwähnenswert.

Fazit: Danke! Was für ein wunderbarer Abend. Ihr wart wieder alle Spitze und habt Eurer Ballettchefin das vielleicht schönste vorgezogene Geburtstagsgeschenk zum 70. gemacht, was man sich in einem solchen langen Leben fürs Ballett nur wünschen kann.

Peter Bilsing 22.2.16

Bilder (c) Straub / Grothe-Rosenberg