Wien: „Der Reigen“

Kooperation mit den Bregenzer Festspielen

Der „kleine“ Tod als Karussell abgründiger Gefühle

In einem tanzartigen Reigen begegnen einander in Arthur Schnitzlers einst so skandalumwitterten Theaterstück „Reigen“ von 1920 zehn Paare, auf der Suche nach schneller Liebe in Gestalt von Sex und trennen sich nach dem vollzogenen Beischlaf, der im Stück nie gezeigt wird, ebenso schnell. „Questo è quello che fanno tutti“ ist man versucht zu sagen, denn Schnitzler führt uns alle sozialen Schichten des Fin de siècle vor, vom Proletariat bis zur Aristokratie. Nach den beiden Aufführungen in Berlin 1920 und Wien 1921, die jeweils in einem regelrechten Theaterskandal ausarteten, belegte der S. Fischer Verlag das Stück auf Wunsch Schnitzlers mit einem Aufführungsverbot, welches von dessen Sohn Heinrich verlängert wurde und bis zum 1. Januar 1982 in Kraft blieb.

Michael Sturminger (1963*) hat nun für Bernhard Lang ein Libretto mit Figuren des 21. Jhd. entworfen, die dennoch nahe bei Schnitzler angesiedelt bleiben. Freilich gibt es keinen Grafen mehr und das süße Mädchen wird zum Schulmädchen, das Stubenmädchen zum Hausmädchen, der Dichter zum Autor und die Dirne zur Prostituierten. Lang hat die Rolle der Schauspielerin mit einem Countertenor besetzt, um so das Genderthema anzudeuten. Die „Schauspielerin“ wurde von der Regisseurin Alexandra Liedke als „Dragqueen“ inszeniert, um diesen Reigen auch auf homosexuelle Beziehungen im Hinblick auf die gesellschaftlichen Veränderungen auszuweiten. Bernhard Lang arbeitete in der musikalischen Umsetzung viel mit sogenannten „Loops“, also unverändert wiederholten Sequenzen, Wort,- und Satzwiederholungen, die einen rap-ähnlichen Sprachduktus erfordern. Nach Lang schwanken die Textwiederholungen dabei wie bei Thomas Bernhard zwischen „verzweifelter Komik, erotischer Besessenheit und depressivem Zwangsverhalten“. In der Art einer filmischen „Überblendung“ setzte Lang dann dort, wo bei Schnitzler im Text verschämte Gedankenstriche aufscheinen, den Geschlechtsakt durch eine 15 Sekunden dauernde rauschende Klangfläche um, die der Fantasie des Zuhörers völlig anheimgestellt bleibt, dessen Gedanken jedoch durch die Videozuspielungen von Falko Herold noch stärker angeheizt wurden.

Mit den Stilmitteln unterschiedlicher musikalischer Richtungen, unter Verwendung eines klassischen Orchesters sowie eines Jazztrios mit Synthesizer gelang es dem Komponisten Lang auch die Verschiedenartigkeit der Figuren auszudrücken. Die Klanglichkeit und Instrumentation des Stückes bewegen sich – so der Komponist – vom „Zitat als Versatzstück (Lou Reed Songs, Japanische Otaku-Tänze, Duke Ellington-Melodien) bis zum thematischen Zitat (Wozzeck, Lulu, Debussy’s Jeux), wobei erstere meist als musikalische Figur der Halbwelt, der Welt der Heimlichkeit und des Verborgenen, der Welt des Trash stehen, letzteres als zeitbezogene musikgeschichtliche Referenzen auf den Originaltext… Die etwa gleiche Länge aller zehn Szenen sowie die granulierte, monadologische Schnittstruktur entsprechen der Herleitung der musikalischen Struktur aus den Experimentalfilmen des Raffael Montañez Ortiz (1934*) und legt eine kinematografische Wahrnehmung und Interpretation des Stücks nahe (ZKM 18.07.2013)“. Bei der Uraufführung am 25. April 2014 im Schlosstheater Schwetzingen erschien die Oper noch unter dem Titel „Re:igen“. Bei den Bregenzer Festspielen kam das Werk Ende Juli 2019 durch die Neue Oper Wien zur erfolgreichen Österreichischen Erstaufführung. Nun präsentierte es Walter Kobéra auch erstmalig in Wien. Freilich ist es nicht die erste Vertonung von Schnitzlers Reigen als Oper. 1997 konnte man im Museumsquartier Wien die gleichnamige Oper „Reigen“ des belgischen Komponisten Philippe Boesmans (1936*) nach einem Libretto von Luc Bondy (1948-2015) sehen…

Alle fünf Sängerdarsteller dieser Aufführung wurden elektronisch verstärkt und mussten jeweils zwei unterschiedliche Charaktere verkörpern. Am besten gelang das Alexander Kaimbacher zu Beginn als besoffener Vorstadtpolizist Franz (bei Schnitzler Soldat) in der Szene mit der Prostituierten Manuela und später als Autor Robert (bei Schnitzler Dichter) in der Szene mit der Schauspielerin, wo er seine körperliche Fitness durch zahlreiche Liegestütze anschaulich demonstrierte. Als Autor aber hat er auch Telefonsex mit dem Schulmädchen. Dieses gab Anita Giovanna Rosati als unschuldiges, aber dennoch durchtriebenes Früchtchen Lilly mit lieblichem Sopran. Als Hausmädchen Marie lieferte sie wiederum ein schauspielerisches Salonstück mit dem Ehemann Karl, wenn sie die Schuld an ihrer Verführung dem Genuss von Wein zuschiebt. Der Countertenor Thomas Lichtenecker gefiel als „junger Mann“ in der Szene mit der Ehefrau, die mit Mantel und aufgestelltem Kragen und Sonnenbrille bekleidet, Angst vor der Entdeckung hat, diese aber bald darauf im Stiegenhaus wieder ablegt. In dieser Szene konnte er auch auf natürliche Weise seine Sprechstimme ideal zur Geltung bringen. In der Szene zuvor mit dem Hausmädchen kam seine normale, mittlere Bruststimme nur wenig zum Einsatz und er sang größtenteils im Falsett. Den stärksten Eindruck hinterließ er freilich in der Verkörperung der Schauspielerin Pauline, die sich später in der Szene mit dem verklemmten Privatier (bei Schnitzler Graf) des Marco di Sapia als Transgender outet und sich an dem „Muttersöhnchen“ brutal vergeht. Barbara Pöltl verstrahlte in ihren Rollen als abgeklärte Prostituierte Manuela und selbstbewusste junge Ehefrau Emma ihren sinnlichen Mezzosopran.

Ihr besserwisserischer Ehemann Karl, gerade vom Seitensprung mit dem Schulmädchen heimgekehrt, versucht sein schlechtes Gewissen damit hinunter zu spülen, dass er seinen ehelichen Pflichten ausgerechnet auf der Waschmaschine nachkommt. Da ihn auch seine Gattin betrogen hat, geben sich beide diesen Pflichten nur allzu bereit hin, um nur ja keinen Verdacht zu erregen. Schnitzlers beißende Ironie und sein die Psychoanalyse vorwegnehmender analytischer Blick wurden von der Regisseurin Alexandra Liedtke in der Personenführung dank des zur Verfügung stehenden Ensembles an exzellenten Sängerdarstellern packend umgesetzt. Florian Schaaf und Falko Herold unterstützten das temporeiche Liebeskarussell mit ihren ebenso raschen Bühnenbildwechseln, die einen Park, ein Absteigehotel, eine Waschküche und eine Gemeindebauwohnung erahnen lassen. Falko Herold zeichnete auch für die heutigen Kostüme sowie die illustren Videoeinspielungen verantwortlich. Einen nicht unbeachtlichen Anteil am großen Erfolg dieser Dernière leisteten auch das Lichtdesign von Norbert Chmel und die Klangregie von Christina Bauer.

Walter Kobéra sorgte am Pult des fabelhaft musizierenden amadeus ensemble wien ließ die Lang’sche Polystilistik mit ihrer „spermatozoischen Spektralstruktur“ aus zehn zwanzigstimmigen Klängen, die zu Beginn und am Ende der Oper sowie als „Orgasmusfigur“ in der Mitte jeder Szene wiederholt werden, mit äußerster Exaktheit und dennoch genussvoll-sinnlich erklingen. Alle Beteiligten an dieser Produktion, die in der gleichen Besetzung bereits in Bregenz aufgetreten war, wurden vom Publikum der nahezu vollen Halle E begeistert gefeiert und beklatscht. So sollte, nach Ansicht des Rezensenten, „moderne“ Oper sein, indem sie den Spagat schafft, spannendes Musiktheater in eine heutige, ansprechende Tonsprache zu hüllen, die den Zuhörer nicht völlig ratlos zurücklässt. Bravo!

Harald Lacina, 19.11.2019

Fotocredits: Anja Köhler