Wien: „Der Reigen“

Die Frage, ob sich Arthur Schnitzlers einst skandalträchtiges Theaterstück „Reigen“ (immerhin wurde damals erstmals der Geschlechtsakt auf die Bühne gebracht, und das nicht verschämt nebenbei, sondern im Zentrum von neun der zehn Szenen) für ein Libretto eignet, wird nicht jeder so positiv beantworten wie der österreichische Komponist Bernhard Lang (geboren 1957 in Linz) und sein Librettist, der in so vielen Funktionen rege Michael Sturminger (geboren 1963 in Wien).

Allem voran ist der „Reigen“ ein sprachliches Meisterwerk, das den sozialen Kosmos der späten Habsburger-Monarchie durchschritt, Militär, Dienstpersonal, Großbürgertum, Künstler, Adel. Jeder mit seiner eigenen Sprache, Typ und Individualität zugleich, zehn kostbare Figuren, die sich in „verbotenen“ Situationen der Lust finden und zum nächsten Partner weitergehen, dieser dann wieder zum nächsten, bis der „Reigen“ sich schließt. Die Rituale, wie man sich auf die – in jedem Fall erstrebte – sexuelle Vereinigung zu bewegt, sind je nach sozialem Stand ganz verschieden, die Lügen beim „Davor“ und „Danach“, Begierde und Ernüchterung, mit besonderer Meisterschaft dargestellt. Kein gesungener Text kann das bieten. Aber was ist der „Reigen“ sonst als ein psychologisches Meisterwerk?

Michael Sturminger hat das Schnitzler’sche, das Besondere und auch das sprachlich Gestrige total aus dem Text gestrichen (man kann ja, da die Copyright-Frist abgelaufen ist, nach Belieben damit herumwerken). Als über die Maßen oft eingesetztes Prinzip hatte er zu einer nicht nur Verdoppelung, sondern gleich die Verdreifachung von Satzelementen gegriffen, was einzelnen Stellen besonderen Nachdruck verleiht. Dennoch – so sehr sich der Komponist auch um eine gewisse Schlankheit der Orchesterführung bemüht hat, akustisch wirklich verstehen wird man den „Reigen“ als Oper auf der Bühne nur, wenn man den Text gut kennt.

Da müsste nun die Musik das Werk rechtfertigen, und das tut sie nicht. Die eindreiviertel Stunden sind sogar recht einförmig, sowohl in der Behandlung der Stimmen wie in jenen orchestralen Passagen, die den Geschlechtsakt begleiten. Ein zündender Funke ist nie auszumachen, die Musik plätschert gekonnt modernistisch dahin, ohne die Langeweile, die sich bald einstellt, je aufhalten zu können. Der eine, weltberühmt gewordene „Reigen“-Walzer, den Oscar Straus für den „Reigen“-Film von Max Ophüls komponiert hat, wird wohl noch gespielt werden, wenn diese Oper längst vergessen ist…

Für den Abend im MuseumsQuartier spricht, dass Regisseurin Alexandra Liedtke sehr ordentlich gearbeitet hat, wenn man davon ausgeht, dass die Geschichte brutal in die Gegenwart versetzt wurde, aus dem Soldaten ein Polizist, aus dem Grafen ein Privatier geworden ist (da hätte man gleich „Pensionist“ sagen können, denn Privatier ist auch ziemlich gestrig, oder?), aus dem Süßen Mädel ein Schulmädchen und aus dem Dichter schlicht ein Autor – ja, heute ist es, und da stimmt ja zusätzlich zwischen Schnitzler / Sturminger / Lang vieles nicht zusammen: Ein Ehepaar, das in der Waschküche so nebenbei bumst, kann kaum das Drahtseil-Gespräch über Betrug glaub- und sinnhaft machen, das bei Schnitzler so brillant und humorvoll die Lügen auf beiden Seiten deutlich enthüllt…

Dennoch – wenn’s denn Heute sein muss, dann haben Falko Herold & Florian Schaaf für die Ausstattung ganz überzeugend gearbeitet, mit Projektionen zwischen Praterbank und Gemeindebau (!), zwischen Hotel Oriental und Karlsplatzpassage, wobei die Regisseurin die Szene Autor / Schulmädchen (um sie so zu nennen) als Telefonsex stattfinden lässt. Der junge Mann und die junge Frau absolvieren ihren Sex übrigens im Stiegenhaus. Kommt es noch darauf an, wo ohnedies alles falsch ist?

Was tun während des Geschlechtsakts? Das ist die zentrale Crux jeder „Reigen“-Inszenierung auch des Theaterstücks. Hier gibt es Videos (Falko Herold zeichnet auch dafür und die Allerwelts-Kostüme verantwortlich), und die sind meist (graue Gestalten bewegen sich in Rhythmischer Gymnastik) eher einfallslos, nur einmal witzig, wenn um den Autor in der Telefonszene beim Organismus die Wortfetzen zu kreisen beginnen: Sex als Inspiration.

Wenn vorgesehen ist, dass fünf Darsteller die zehn Rollen verkörpern, dann muss einer das Geschlecht wechseln: Countertenor Thomas Lichtenecker tut es, erst als verklemmter junger Herr, dann als Schauspielerin, die sich in ihrer Garderobe als DragQueen und gender-switchend erweist (so putzt man sich aktuell auf). Barbara Pöltl als vor allem am Ende selbstbewusste Prostituierte und als junge Frau (Sex im Treppenhaus oder auf der Waschmaschine, das Leben ist hart heutzutage), Anita Giovanna Rosati als Hausmädchen und Schulmädchen, Marco Di Sapia als Ehemann und ehemaliger Graf, jetzt Privatier, sowie der die Szene stehlende Alexander Kaimbacher als widerlich proletarischer Polizist und hektisch-fickriger Autor. Sie alle singen neben der Tonalität her und sind von der Regisseurin gut geführt, mit keinerlei darstellerischen Mätzchen belastet, die die Sache noch unklarer gemacht hätte, als sie in ihrer Oberflächlichkeit schon ist.

Natürlich wurden die Darsteller sowie Walter Kobera am Pult des amadeus ensemble-wien mit reichem und für ihre Leistungen auch verdientem Beifall belohnt. Aber wirklich gebracht hat man diese musikalische Schnitzler-Verballhornung nicht.

Renate Wagner, 19.11.2019

Bilder © anja koehler | andereart.de