Wien: „Le Malentendu“, Fabian Panisello

Walter Kobéra von der Neuen Oper Wien ist ein wahrlich „internationaler“ Coup gelungen. Er ist federführend bei der Uraufführung von „Le Malentendu“, der Oper des argentinischen Komponisten Fabian Panisello. Diese erfolgte im Teatro Colón von Buenos Aires, als zweite Station ist Wien an der Reihe, dann geht man mit der Produktion nach Madrid, Warschau und Nizza.

Fabian Panisello, Jahrgang 1963, studierte u.a. am Mozarteum und arbeitete auch mit Peter Eötvös, Pierre Boulez, Luciano Berio, Karlheinz Stockhausen. Man könnte sagen: Man hört’s! Das ist nun keine zeitgenössische Oper, die auf die Ohren der Zuschauer Rücksicht nimmt, vielmehr zieht der Komponist ein Konzept radikaler und unbequemer Musiksprache gnadenlos durch, mit starker elektronischer Beimischung, vielen Geräuschen, vielen Glissandi, kurz ein richtiger moderner Mix. Das ergibt teils auch verblüffende Klangeffekte, und das Libretto von Juan Lucas baut zahlreiche Möglichkeiten für orchestrale Zwischenspiele ein, die ein besonders starker Teil des Abends sind.

Weniger verträglich ist die Behandlung der menschlichen Stimme durch Panisello, hier verläuft absolut nichts tonal und melodisch (das muss ungeheuerlich schwer zu lernen sein), und vor allem die Soprane werden permanent in höchste Höhen gejagt, was anzuhören durchaus seine qualvollen Momente hat.

Das zugrundeliegende Stück von Albert Camus ist bekannt („Das Mißverständnis“) und wohl eines der verstörendsten der Weltliteratur. Ein Sohn kehrt nach 20jähriger Abwesenheit heim, gibt seine Identität nicht preis, in der rührenden Hoffnung, Mutter und Schwester müssten „die Stimme des Blutes“ vernehmen und ihn erkennen. Aber die beiden Frauen, die ein kleines Hotel führen, haben schon lange begonnen, reiche fremde Gäste zu ermorden, um ihr Geld zu stehlen und eines Tages wegzuziehen – es ist vor allem Tochter Martha, die ihre Sehnsucht nach dem Leben, den Wunsch, anderswo zu sein, gnadenlos durchzieht… Sie ermorden auch den Bruder. Die Mutter begeht Selbstmord, Martha wohl auch. Die Gattin des Bruders bleibt trostlos und verzweifelt zurück.

Eindreiviertel pausenlose Stunden ergeben im Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien einen teils ohrenkratzigen, aber doch durchaus spannenden Abend. Regisseur Christoph Zauner setzt in seiner Regie (das schlichte Hotelbühnenbild, dem einmal eine Rezeption „vorgeschoben“ wird, stammt von Diego Rojas Ortiz) auf leidenschaftlich ausgespielte Emotionen der Darsteller und stark auf Videoeinspielungen (Video: Chris Ziegler), die nicht getrennt laufen, sondern sich über die Szene legen, und für die sich, wie erwähnt, schon vom langen Vorspiel an viele Gelegenheiten ergeben. Es sind halb reale, halb traumhaft-chaotische Bilder, die hier das schaurige Geschehen quasi umspülen, das übrigens auf Französisch gesungen wird, in der Originalsprache des Camus-Stücks.

Wie will man bei einer Musik, deren Struktur man nicht erkennen kann, Leistungen exakt beurteilen? Walter Kobéra und das amadeus ensemble-wien geben den Klangraum für die vier singenden und den einen (wenig) sprechenden Darsteller. Der einzige singende Mann, der Isländer Kristján Jóhannesson, verströmt gelegentlich Wohllaut mit seinem Bariton. Als Mutter bietet die israelische Mezzosopranistin Edna Prochnik schöne, warme Töne, wenn sie darf (wenn sie am Bett des betäubten Sohnes sitzt und zu ahnen scheint, wer er ist, gibt es eine wunderschöne lyrische Passage – geht doch, wenn man will!), während die beiden Soprane einander in Schrille überbieten müssen: die Amerikanerin Anna Davidson liefert als Tochter Martha eine tolle Studie der Verkrampftheit, Gan-ya Ben-gur Akselrod gibt verzweifelter Liebe Ausdruck. Und der schweigende Mann, der nicht helfen will (Dieter Kschwendt-Michel), erinnert daran, dass Camus schließlich aus einer Welt des Nihilismus kam…

Dass alle vier Sänger trotz des relativ kleinen Raums mit Kopfmikrophonen agieren, macht die musikalische Seite des Unternehmens noch – na, sagen wir: schärfer. Dennoch: ein beeindruckender Abend war es zweifellos.

Renate Wagner 24.2.17

Fotos: Armin Bardel / Neue Oper Wien