Berlin: „Werther“

Sturm und Drang im Konzertsaal

Das Frackhemd zwar blieb diesmal hoch geschlossen, aber auf den Kniefall vor dem Publikum mochte Vittorio Grigolo nicht verzichten, und als weiterer Beweis seiner Verehrung gegenüber den ihm zujubelnden Berlinern ließ er seinen Blumenstrauß in der Philharmonie nach Massenets "Werther" in die Menge fliegen, der des Baritons folgte sogleich. Was Regie bewirken kann, hatte sich vor Jahren bei einer szenischen Aufführung in der Deutschen Oper gezeigt, als eine Vergewaltigung auf der Waschmaschine zu Heiligabend, als eigentlich der Weihnachtsmannmantel des Amtmanns im Waschsalon gereinigt werden sollte, das Publikum kalt ließ und die Musik durch die unsäglich dümmliche Szene um ihre Wirkung gebracht wurde. Nun aber loderten die Leidenschaften in der konzertanten Aufführung ebenfalls der Deutschen Oper auf dem Konzertpodium wie auf den Zuschauerrängen, dank auch des Dirigats von Donald Runnicles, der den Gedanken an süßliche, parfümierte Musik gar nicht erst aufkommen ließ, sondern den "Werther" als große tragische Oper auffasste, Affinität zur und Kompetenz für die französische Oper hören ließ, für das Vorspiel den großen tragischen Atem hatte wie auch die idyllische Naturschwärmerei blühen und den Walzer zum Schluss des 1. Akts wunderbar ausmusizieren ließ. Vieles hatte man so noch nicht im Orchester gehört wie den schwebenden Klang der Instrumente in der Briefszene, die Seufzer der Streicher vor dem vierten Akt oder ihren schneidenden Klang bei Werthers Erscheinen im dritten Akt. Dazu hatte der Dirigent auch ein wachsames Auge für die Bedürfnisse der Sänger, so dass er sich den Handkuss des Tenors am Schluss der Vorstellung mehr als redlich verdient hatte.

Wacker schlug sich der Kinderchor der Deutschen Oper unter Christian Lindhorst zur Sommers- wie zur Weihnachtszeit.

Seltsam, dass bei konzertanten Aufführungen die Sängerin der kleinsten Rolle oft das aufwändigste Kleid trägt, so auch Elbenita Kajtazi, die bekanntlich als sängerische Leistung des Käthchens nur den emphatischen Ausruf "Klopstock" zur Aufführung beisteuern kann, was sie mit Inbrunst tat, so wie auch Stephen Bronk als Brühlmann. Mehr profilieren konnte sich mit beachtlicher vokaler Präsenz Jörg Schörner als Schmidt, sekundiert von Ben Wager als Johann. Wohl auch ein guter Albert wäre Markus Brück, der seinen Ausnahmebariton an den Amtmann verschwendete. Den Albert sang der gerade mit Billy Budd erfolgreich gewesene John Chest, der dem Rollenklischee des knochentrockenen Ehemanns gar nicht entsprach, sein schwärmerisches Bekenntnis zu Charlotte mit einem jungen, frischen Bariton vortrug und dem etwas Haarspray dazu verhelfen könnte, sich nicht so oft mit seiner blonden Mähne beschäftigen zu müssen. Eine sehr gute Leistung bot die Stipendiatin Siobhan Stagg als Sophie nicht des sonst manchmal auf die Nerven gehenden Kanarienvogelgezwitschers, sondern mit einem zwar zarten, aber runden, feinen lyrischen Sopran, auf dem tatsächlich der viel beschworene Sonnenschein zu glänzen schien.

Ebenfalls eine vorzügliche Besetzung für die Charlotte war Ekaterina Gubanova mit warmer Mezzostimme wie aus einem Guss, auch bei den dramatischen Ausbrüchen von schönem Ebenmaß, sehr selten zuviel Vibrato oder eine leichte slawische Schärfe hören lassend. Ihre Figur konnte tief berühren, und der Beifall des Publikums fiel entsprechend aus. Gegenüber heldischeren Rollenvertretern zeigte der Werther von Vittorio Grigolo gewollt oder ungewollt auch die Unreife, das übermäßig Pathetische der Figur, war so dem Goetheschen Werther näher, als man die Rolle sonst zu hören und sehen bekommt. Die Stimme hat ein sehr schönes Timbre, eine sichere Höhe, ist metallischer geworden, und der Sänger versucht auch mit reicher Agogik zu singen, wobei das Piano farbiger sein könnte, es aber nicht weniger ist als das seiner Tenorkollegen von gleichem Rang. Das manchmal hektische Blättern im Klavierauszug möchte man bei soviel Stimmschönheit als Darstellung eines nervösen, überspannten Charakters, welcher der Werther nun einmal ist, einschätzen. Als medizinisches Phänomen bleibt die Wanderwunde im Gedächtnis, mit der sich Grigolo zum 4. Akt auf das Podium schleppte und die im Verlauf der Todesszene von der linken auf die rechte Brusthälfte zog – aber in der Oper ist alles möglich!

Am Donnerstag gibt es noch eine Vorstellung, und Deutschland ist diesmal spielfrei. Also nichts wie hin!

17.6.2014 Ingrid Wanja
Die Fotos sind von Bettina Stoess