Essen: Jazz Symphony

3. Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker am 28.10.2017 in der Reihe "NOW! Grenzgänger"

Frank Dupree, Klavier

Essener Philharmoniker

HK Gruber, Dirigent

HK Gruber: "Charivari"

Darius Milhaud: "Le boeuf sur le toit", op. 58

George Antheil: "A Jazz Symphony"

Dmitri Schostakowitsch: Suite Nr. 2 für Jazz-Orchester

George Gershwin: "Concerto in F" für Klavier und Orchester

19:30 Uhr "Die Kunst des Hörens" – Konzerteinführung durch HK Gruber zusammen mit dem Orchester – Offizieller Konzertbeginn 20 h

Phänomenal !!

Liebe Essener Konzertfreunde,

zu berichten ist über ein wirklich einmaliges Sinfoniekonzert mit geradezu vorbildlicher inhaltlicher Zusammenstellung. Alles paßt, und thematisch ist dieser "Jazz" ein immer noch viel zu selten gespieltes Leitmotiv in der Klassik.

Da reist man gerne aus der Nachbarstadt Düsseldorf an – wo sich vermutlich höchsten 200 Leute bei so einem Konzertinhalt versammelt hätten. Man ist als oft geplagter Rezensent über alle Maßen erfreut, daß und wie so ein Konzert der absolut tollen Raritäten von den Essenern angenommen wird. Die Philharmonie präsentiert sich fast ausverkauft, und das auch am zweiten Abend. Hab Dank, liebes Essener Publikum, daß Du Dich auf solch teilweise unbekanntes und kaum gespieltes Terrain führen läßt und bereit bist, so offenherzig auf das neue Unbekannte einzugehen!

Der große HK Gruber ist ein "Universalgenie": Dirigent, Musiker, Komponist, Entertainer und Sänger – ja Sie lesen richtig "Sänger", denn er sieht sich selber auch als "Chansonnier"…

Foto (c) Philharmonie Essen – Neujahrskonzert 2008 – dank an OMM

Er ließ es sich natürlich nicht nehmen, schon eine halbe Stunde vor Konzertbeginn quasi zum Entrée zu bitten, wo er in seiner höchst eigenen charmanten Art (mit augenzwinkernd verstecktem Wiener Schmäh, versteht sich) die Werke erklärte. Dies tat er mit dem kompletten Essener Orchester – wie einst der legendäre Lenny Bernstein in seinen abendfüllenden Young Peoples Concerts.

Verständlich, daß Gruber über sein eigenes Werk "Charivari" viel zu sagen hatte, aber auch über die anderen Stück gab es interessante und wichtige Informationen.

HK ist ein charmanter Plauderer, dem man gerne zuhört und dem man auch noch stundenlang zuhören könnte. Dieser große Künstler hat viel zu erzählen. Das Publikum lauschte gebannt und war begeistert.

Am meisten allerdings, und das brachte den ohnehin enthusiasmierten Saal am Ende förmlich zum Überkochen, als er zusammen mit dem fabelhaften jungen Pianisten Frank Dupree als Zugabe lustvoll den „Song of the Rheinland“ von Kurt Weill sang. Stimmlich wirklich schrecklich, aber mit soviel Herzblut und Engagement vorgetragen, daß man einfach nur begeistert aufspringen mußte. Hier waren die mittlerweile zur Allerweltsgestik degenerierten "Standing Ovations" endlich (!) einmal angebracht. Unerschöpflicher Jubel, dem sich auch der Rezensent lauthals anschloß.

Grubers "Charivari" (Untertitel: Ein österreichisches Journal) ist ein "anarchischer Schabernack"; trefflicher kann man seine Komposition – bitte hören Sie in den verlinkten Ausschnitt mal hinein – kaum beschreiben. Alles fängt an wie die originale Perpetuum-Mobile-Polka von Johann Strauß. Zumindest zwei Minuten lang, dann bricht der musikalische Schabernack los. Themen werden konterkariert, überall lauern Blechbläser mit plötzlich einbrechenden Attacken, und diverse musikalische Zitate werden köstlich in dieses "Monster"-werk mit eingezwängt. Gerard Hoffnung läßt grüßen! Sogar das weltbekannte und populäre Glockenmotiv von "Big Ben" taucht gegen Ende auf. Man möchte das viel zu kurze Werk eigentlich sofort noch einmal hören.

(Der Opernfreund empfiehlt diese – Bild unten – immer noch bei Amazon erhältliche EMI Aufnahme >>>)

erinnert dann schon eher an Jazz bzw. Varieté-Musik. Es erklingen fast an Popmusik erinnernde Melodien, irgendwie klingt auch Bernsteins "Candide" an. Reminiszenzen an Tango, Samba und den portugiesischen Fado erklingen in bunter Reihenfolge. Beste Volksmusik auf grandiosem Niveau und in superber Verarbeitung. Die zwanzig Minuten vergehen wie im Flug, und die Essener Philharmoniker tragen ihren Milhaud – von dem man gerne öfter mehr hören würde in städtischen Konzerten – geradezu auf Flügeln.

George Antheil "A Jazz Symphony" beschließt den ersten Teil. Der sogenannte "Bad Boy of Music", der neben seinen vielen Kompositionen – darunter immerhin auch sechs Opern, von denen TRANSATLANTIK vor 20 Jahren sogar mit großem Erfolg in Bielefeld lief – auch das Patent zum ersten funkgesteuerten Torpedo anmeldete, war einer der größten und interessantesten amerikanischen Komponisten. Ein Filou und hochintelligenter Bursche.

Sein BALLET MECANIQUE umfaßt neben der sinfonischen Großbesetzung sagenhafte 16 mit Lochstreifen selbstspielende Klaviere, Feuerwehrsirenen, elektrische Klingeln und einen Flugzeugmotor.

Bei seinen Konzerten in Europa wurden die Türen von eigens angestellten Bodyguards von innen verriegelt. Antheil legte dann zu Konzertbeginn demonstrativ stets seinen 45er Smith-and-Wesson-Colt auf das Klavier, mit den Worten: "Achtung! Ich bin bewaffnet!" – was allerdings tumultartige Ausschreitungen u.a. in Paris kaum verhinderte. Es lohnt sich unbedingt, sich einmal mit seiner hochinteressanten Biografie zu beschäftigen.

Natürlich ist die Jazz Sinfonie ein ganz wunderbar friedliches und easy zu rezipierendes Werk.

Nach der Pause dann Schostakowitsch s Zweite Suite für Jazz-Orchester.

(Der Opernfreund empfiehlt eine Aufnahme, die wir für perfekt halten, siehe unten)

Sie ist ein geradezu begnadetes Stück für die jährlichen Silvesterkonzerte oder die "Last Night of the Proms". Das Oeuvre klingt anfangs wie Marschmusik (Sousa lässt grüßen), fulminant, laut, martialisch und kriegt dann die Kurve zum schön Melodischen, wobei Schostakowitschs Walzerseligkeit schon ziemlich doppelbödig daherkommt und nicht unbedingt als Anbiederung an die Aufforderung Stalins, er möge doch mal was richtig Volkstümliches komponieren, verstanden werden darf.

Im Gegenteil, jenes eingeforderte scheinbar Volkstümliche wird ziemlich rüde entblößt und desavouiert. Ein Stück von hohem Unterhaltungswert, aber dennoch hört man zwischen den Zeilen, was den Komponisten eigentlich bewegte. Er hatte stete Todesangst; seine Koffer waren für Sibirien gepackt … . Über viele Jahre rechnete er damit, jederzeit von den stalinistischen Mordbrennern umgebracht oder deportiert zu werden. Lesen Sie sein Buch "Zeugenaussage", welches auch von Tony Parker verfilmt wurde.

George Gershwin "Concerto in F für Klavier und Orchester" ist ein Klassiker und wurde vom jungen Frank Dupree ganz wunderbar ausgeleuchtet. Die Essener Philharmoniker verschmolzen zu einer Einheit mit dem Pianisten.

Schön, daß er sich auch nicht allzu sehr in den Vordergrund spielte, sondern Gershwins romantisierende Noten mit unvergleichlicher Empathie, Luft- und Leichtigkeit aus dem Steinway perlen ließ.

Gerade hier zeigte sich wieder die traumhafte Akustik der Essener Philharmonie, welche sowohl zarte Pianotöne, als auch Orchester-Fortissimos problemlos wiedergibt.

Fazit:Für ein städtisches Sinfoniekonzert war dieser Abend eine geradezu unglaubliche Präsentation auf allerhöchstem Niveau. Und man merkte bei jedem Stück, wie es auch den Musikern unendlich viel Spaß machte, aus dem üblichen Alltagseinerlei auszubrechen und wie sich jeder einzelne hier hochmotiviert für diese Art von Klassik einbrachte.

Daß der Dirigent HK Gruber am Ende sogar vor dem Orchester niederkniete, war ebenso beeindruckend wie berechtig. Keine Show, sondern ehrliche Anerkennung.

Peter Bilsing 1.11.2017

Bisher gibt es leider keine offiziellen Bilder (Sparmaßnahmen!) aus der Philharmonie von diesem Ausnahmeabend, daher mußten wir auf andere Bilder zurückgreifen.