Essen: Wunderbares Concerto Popolare

Was verbindet die Liebe normaler Konzertabonnenten mit der Russischen Musik? In erster Linie der Name "Peter Iljitsch Tschaikowsky". Nächste Frage an den verehrten Leser: Und was steht auf der Hitparade ganz oben? Natürlich das erste Klavierkonzert vom selbigen. "Taa taa ta taaaaa…." Auch heute noch ein Ohrwurm ersten Grades, so beliebt und bekannt wie das Schwanensee-Motiv, welches ich persönlich als "Gruftie-Kritiker" immer noch am Schönsten in der Version von Vicky Leandros ("Schau wie die wilden Schwäne ziehen") rezipierbar finde.

Groß-sinfonisch steht sicherlich die 6. Sinfonie (Pathétique) in der Beliebheitsskala auf Platz eins, aber direkt dahinter käme schon die herrliche 4. Sinfonie.

Beim 2. Pro Arte Konzert gestern in der Essener Philharmonie gab es gleich beides zur Freude des lokalen Publikums zu hören, ein Abend des freudvoll entspanntem Zuhören von Bekanntem.

Solist des Abends war Dmitry Masleev (Bild oben beim Tschaikowsky Wettbewerb), geboren in der sibirischen Ulan-Ude Wüste und in Moskau ausgebildet, der beim letztjährigen Tschaikowsky-Wettbewerb, die Gold-Medaille, den Publikumspreis und den Preis für die beste Konzert-Interpretation gewann.

Über ihn schreibt Tatjana Rexroth (MZZ) "Eine geradezu ans Metaphysische reichende Musikalität zeigte sich da und verwandelte den Raum in eine Atmosphäre des Unwirklichen. Das setzte sich in der Finalrunde mit Tschaikowskys b-Moll-Konzert und Prokofjews 3. Klavierkonzert auf anderer ästhetischer und stilistischer Ebene fort. Der Jubel und die Entspannung auf den Gesichtern – vor allem der Juroren – sagten es: Es war ein würdiger erster Preisträger gefunden. Ein Held? Wer weiß…"

Masleev begeisterte nicht nur durch sein wuchtiges Spiel, sondern auch durch seine gefühlvollen, gelegentlich wie Champagnerbläschen perlenden Läufe, das Publikum. Vladimir Spivakov war mit der Russischen Nationalphilharmonie ein braver, liebevoller Begleiter, der allzu Aufbrausendes und Schwelgerisches ganz hinter die Interpretation des Klaviervirtuosen, der sich erkennbar wohl fühlte, zurück steckte.

Nach der Pause dann Sinfonisches. Mittlerweile gibt es rund 22 russische Orchester, die sich international bewegen oder zumindest Aufmerksamkeit bekommen. Die Russische Nationalphilharmonie gibt es seit 2003. Vladimir Spivakov der die Russische Nationalphilharmonie seit Beginn als Generalmusikdirektor leitet ist sehr populär in Russland. Das hat auch außermusikalische Gründe. Die 1994 von ihm gegründete Spivakov-Stiftung (sie finanziert auch lebensrettende Operationen) unterstützt seither unter anderem hunderte von jungen Musiktalenten, von denen Dutzende zu jungen Virtuosen herangereift sind. Die UNESCO zeichnete Vladimir Spivakov 2006 wegen seiner bedeutenden künstlerischen Verdienste und wegen seiner Aktivitäten zur Förderung des Friedens und des Dialogs zwischen den Kulturen als "Künstler des Friedens" aus.

Interessant ist, daß er seine Karriere Anfang der siebziger Jahre als Violinvirtuose mit weltberühmten Orchestern, wie den Philharmonikern aus Wien, Berlin und New York, sowie dem Chicago, London und Amsterdam Philharmonic Ochestra, und so bekannten Dirigenten, wie Leonhard Bernstein, Georg Solti, Lorin Maazel und Claudio Abbado, begann.

Obwohl er die Vierte sicherlich schon hunderte Male mit seinem Orchester gespielt hatte, dirigierte er nicht auswendig. Das ehrt ihn, denn solcher Art oft als "Schaudirigieren" bezeichnetes Wirken, läge dem hochsympathischen Künstler fern. Man hat auch nicht den Eindruck, daß das Werk allzu sehr in Routine erstarrte. Die Sinfonie blieb ebenerdig ohne übertriebenem Bläserglanz oder allzu viel Rubato, was auch der Sitzordnung ein wenig geschuldet war, denn alle 120 Musiker saßen auf gleichem Niveau – eine ungewöhnliche Aufstellung, die aber immerhin dafür sorgte, daß der orchestrale Gesamtklang ohrengenehm auch im Fortissimo rüber kam.

Mit ungewöhnlichen vier Zugaben von Sibelius, Schostakowitsch und Chatschaturjan konnten die Musici ihre große Spielfähigkeit auch außerhalb des altbekanntem unter Beweis stellen, wobei das geradezu begnadet gespielte Intermezzo der Polizeiszene aus "Lady Macbeth von Mzensk" das Publikum doch ziemlich überraschte, während man sich beim Valse Triste oder dem Maskerade-Walzer eher aufgehoben fühlte.

Fazit: ein schönes Konzert, welches ganz vortrefflich in die friedfertige Vorweihnachtzeit passte. Und wenn man mit dem "Ohrwurm" des Hauptthemas des 1. Klavierkonzerts dann summend nach Hause fährt, ist dem Seelenheil doch mehr als genüge getan.

Peter Bilsing 23.11.16

Bilder (c) Tschaikowsky Wettbewerb / Arte Konzerte Essen / Der Opernfreund

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