Essen: Weltklasse hoch drei

Kristine Opolais / Boston Symphony Orchestra & Andris Nelsons

Die sogenannten BIG FIVE aus Amerika (Neben den BSO sind das: New York Philharmonic, Chicago Symphony, Philadelphia Ochestra & Cleveland Orchestra) waren dankenswerter Weise schon alle in Essen zu erleben. Eine objektive Hitparade zu erstellen ist immer schwierig, sind sie doch alle von europäischen Dirigenten maßstabsetzend geprägt worden. NYP (Mahler, Toscanini, Bernstein…), CSO (Kubelik, Martinon, Solti…), PO (Muti, Sawallisch, Eschenbach…) sowie das CO (Szell, Boulez, Welser-Möst…). Meinen Platz Eins aktuell ziert jedenfalls das BSO.

Das B OSTON S YMPHONY O RCHESTRA zeigt sich als geradezu bienenfleißiges Reiseorchester. Spielten sie am Sonntag, dem 1.Mai (in Amerika kein besonderer Feiertag!), noch in ihrer eigenen Symphony Hall in Boston, bewegte man sich flugs zum Dienstag hin schon nach Frankfurt; Donnerstag steht Leipzig auf dem Reiseplan, Freitag: Dresden, Sonntag: München, Montag/Dienstag Wien, Mittwoch: Hamburg und Donnerstag: Luxemburg. "Europe in seven days" könnte man in Anlehnung an einen alten US-Reiseslogan das Ganze ironisch nennen.

Das Essener Programm vom Mittwoch weicht dabei vom sonstigen Mahler 9. ab, was diesen Abend eigentlich besonders für aufgeschlossene Musikfreunde und Raritätensammler interessant machte. Oder kennen Sie, verehrte Opernfreunde, die Suite von Dmitri Schostakowitsch betitelt "Schauspielmusik zu Hamlet" (nach Shakespeare). Und wer kennt schon Sergej Rachmaninows Lied "Zdes hhorosho" (Wie schön dieser Platz – op. 21 Nr. 7)?

Letzteres wurde von Weltstar Kristine Opolais begnadet und traumhaft schön interpretiert, ebenso wie die folgende Tatjanas Briefszene aus "Eugen Onegin" (Pjotr I. Tschaikowski). Wer Frau Opolais erlebt, begreift schnell warum diese Sängerin zurzeit als die absolute Number One gilt, insbesondere wenn weder Anna Netrebko, noch La Garanca greifbar sind. Ihre unprätentiöse Darbietung schafft feuchte Augen auch bei hartgesotten, bärbeissigen Kritikern ;-). Optik und Klangbrillanz gehen bei ihr Hand in Hand; Ohr in Auge mit einem genügend rubatoreichen Orchester, das geradezu himmlisch mit 120 Stimmen einen gepflegten Tschaikowski intoniert. So einen Abend zu verbringen ist ein Glücksfall und Balsam für das oft hartgeprüfte Seelenheil eines Kritikers. Daß dabei die rund 1800 Zuhörer nun wirklich im 7. Himmel schwebten, braucht man eigentlich nicht zu erwähnen. So far zum ersten, nennen wir ihn, den "russischen" Teil.

Bei soviel Rarität und Anspruch konnte der zweite Teil – nennen wir ihn: den "französischen Teil" – nur unter dem Aspekt eines CONCERTO POPULARE ablaufen. Wenigstens diesmal nicht Mussorgskis Bilder einer Ausstellung oder Dvoraks Neue Welt, sondern Claude Debussy La mer und Maurice Ravel La Valse.

Eigentlich ein Allerweltsprogramm, welches so, oder in ähnlicher Konstellation – Ravels "Bolero" hätte ich fast vergessen – allüberall offeriert wird. Dennoch muß konzidiert werden: Es hat sich gelohnt. Ich habe Ravels Walzer so ungeheuer fulminant und derart hin- wie mitreißend dramatisch interpretiert, selten gehört. Vom vielgeqälten Filmmusik-Charakter konnte nicht annähern die Rede sein. Auch die Hitparade der Volksmusik rauf- und runtergespielt würde bei diesem 5-Sterne-Orchester neu erstrahlen 😉 Bravi à la bonheur!

Somit schließ ich mit meiner Titelzeile: "Weltklasse hoch drei". Höchste Noten für Dirigent, Solistin und Orchester. Was für ein Konzertabend! Wer nicht dabei war, sollte wenigsten jetzt bitterlich anfangen zu weinen…

Peter Bilsing 7.5.16

Bilder (c) bso.org / Philharmonie Essen