Frankfurt: Gustav Mahler/Yoel Gamzou

Sinfonie No. 10 Fis-Dur (vervollständigt von Yoel Gamzou)

Es war im Jahr 1910 als Gustav Mahler nach Beendigung seiner neunten Symphonie mit der Komposition seiner 10. Symphonie begann. Seine angeschlagene Gesundheit und die vielfache Überlastung führten immer wieder zu Unterbrechungen, so dass er den Fortgang an dieser fünfsätzigen Komposition aussetzte. Am weitesten gedieh der erste Satz, den Komponist Ernst Krenek im Jahr 1924 der Öffentlichkeit vorstellte. Bis zum heutigen Tag ist dieses Adagio oft im Konzertsaal zu hören. Eine komplette Partitur Reinschrift vermochte Mahler nicht mehr zu erstellen. So gab es vielfache Versuche von Komponisten und Musikwissenschaftlern aus der reichen Hinterlassenschaft dieses Werkes eine aufführungsreife Form zu erstellen. Hier war es vor allem der Musikwissenschaftler Deryck Cooke, der bis zu seinem Tod an der Überarbeitung seiner Konzertfassung dieser Symphonie arbeitete. Sir Simon Rattle hat diese Fassung mit den Berliner Philharmonikern vielfach aufgeführt.

Mahlers letzte Symphonie ist erkennbar autobiographisch gefärbt und verarbeitet u.a. die Zerrüttung seiner Beziehung zu der von ihm so geliebten Alma Werfel. Der berühmte dissonante Aufschrei des Orchesters im Neuntonklang des einleitenden Adagios soll die Untreue seiner Frau versinnbildlichen, die ein Verhältnis mit dem Architekten Walter Gropius hatte. Auch der Untertitel des vierten Satzes: „Der Teufel tanzt es mit mir“, einem höllischen Scherzo, lässt vielerlei Rückschlüsse auf Mahlers extremen Seelenzustand in jener Zeit zu….

Am Pult des Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchesters präsentierte sich der junge israelische Dirigent Yoel Gamzou, gegenwärtig Musikdirektor am Opernhaus Bremen.

Gamzou beschäftigt sich seit seinem siebten Lebensjahr intensiv mit der Musik Gustav Mahlers. Vor allem dessen zehnte Symphonie hat es ihm angetan. Intensiv studierte er die Skizzen und Materialien zu diesem symphonischen Torso, bis in ihm die Idee reifte, selbst eine Vervollständigung zu realisieren. Diese Fassung des damals erst 23 Jahre jungen Dirigenten und Komponisten gelangte am 05. September 2010 in Berlin zur Erstaufführung. Exakt 100 Jahre nachdem Mahler die letzte Note an diesem Werk geschrieben hatte. Über zehn Jahre arbeitete Gamzou an seiner Fassung dieser Symphonie.

Eine besondere Gelegenheit also diese so außergewöhnliche Symphonie mit Yoel Gamzou erleben. Um es vorweg zu nehmen: es wurde ein außerordentlicher, unvergesslicher Konzertabend. Das Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchester musizierte extrem motiviert und hellwach in seiner Reaktion. Die Verschmelzung zwischen Dirigent und Orchester verlief außergewöhnlich beglückend. Ein völlig harmonisches Geben und Nehmen ergab sich so ganz von selbst. Gamzou verstand es von Anfang an die Spannungsdichte außergewöhnlich hoch zu halten. Das Orchester war in allen Spielgruppen in bester Verfassung. In Summe entstand so eine Interpretation, die Mahlers Abschied vom Leben erdrückend spürbar machte und sich tief in die Seele der Zuhörer intensiv einbrannte.

Gamzou vermochte in seiner Fassung, ganz anders als die bekanntere Version seines Kollegen D. Coycke, erstaunlich viel von Mahlers Klangsprache zu realisieren. Als Interpret traf Gamzou traumwandlerisch sicher die emotionale Dichte dieser Musik. Immer wieder sorgte er für riesige Spannungsbögen, um dann wieder mit überdeutlichen Ruhephasen die Musik zum Stillstand zu führen. In den dissonanten Reibungen am Ende des einleitenden Adagios oder auch in den beiden Scherzo-Sätzen ließ er es nicht an der notwendigen grotesken Schärfe fehlen. Am eindrücklichsten wirkte der mit „Finale“ betitelte Schluss-Satz. Derart erschütternd und erdrückend ist kaum ein symphonischer Satz in Mahlers Gesamtwerk. Mit größter Vehemenz hämmern sich zwölf gewaltige, ohrenbetäubende Schläge der großen Trommel vernichtend in die Ohren der Zuhörer. Eine Naturgewalt, eine Apokalypse in Tönen! Und dann ertönte vielleicht der magischste Musik des gesamten Konzertabends: ein langes, ausgedehntes Solo der Flöte, das von einer Innigkeit war, das die Zeit still stand. Was für ein beglückender Moment, dazu großartig vorgetragen von der Solistin. Überhaupt sind die Extreme in diesem abschließenden Satz sehr groß. Gewaltige Eruptionen auf der einen Seite, noch einmal kommt der aufschreiende Neuntonklang aus dem ersten Satz, und dann wieder kammermusikalische Einsprengsel, an den solistisch agierenden Streichern (Violine, Bratsche und Cello). Ein leises Lebewohl in Tönen führt in die Ewigkeit.

Das Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchester zeigte sich in beeindruckender Verfassung und blieb den extremen Anforderungen des Werkes nichts schuldig. Ob im Tutti oder den vielen Soloanforderungen: alles erklang, wie aus einem Guss. Herausragend die bis an die Grenze der Spielbarkeit geforderte Solo-Trompete, die mit endlosem Atem und schlankem Ton perfekt intonierte. Die große Wandlungsfähigkeit des Orchesters und das intensive Interagieren waren eine perfekte Basis für einen Konzertabend, der sehr lange in den Zuhörern nachgeklungen haben dürfte. So dauerte es eine Ewigkeit bis nach dem ersterbenden Schlussakkord zögerlich der Applaus einsetzte, der sich dann zurecht zu Ovationen für Orchester und Dirigenten steigerte.

Ein besonderer Konzertabend in der Alten Oper Frankfurt!


Dirk Schauß, 21.5.2019

Bilder (c) Alte Oper