Köln: Mahler 3

Gürzenich-Orchester

Francois-Xavier Roth (Leitung), Sara Mingardo (Mezzosopran), Schola Heidelberg , Mädchen und Knaben des Kölner Doms

Gürzenich-Kapellmeister Francois-Xavier Roth läßt es sich angelegen sein, Werke, welche in Köln ihre Uraufführung fanden, in seiner Amtszeit peu à peu auf den Konzertspielplan zu setzen. Jetzt widmete er sich Gustav Mahlers 3. Sinfonie d-Moll. Dieses monumentale Werk hatte seine Premiere 1902 zwar nicht in der Domstadt, sondern im nahen Krefeld, wurde aber – ergänzt durch die dortige Städtische Kapelle – vom hiesigen Gürzenich-Orchester aus der Taufe gehoben. Der Komponist selber stand am Pult.

Die „Dritte“ gehört zu den Chorsinfonien, doch ist die Mitwirkung von Frauen- und Kinderstimmen auf den kurzen 5. Satz beschränkt, während in der „Auferstehungs-Sinfonie“ (Nr. 2) und der „Sinfonie der Tausend“ (Nr. 8) kollektiver Gesang die gesamte Länge der Werke prägt. Der Text stammt aus „Des Knaben Wunderhorn“. Zwar ist „Armer Kinder Bettlerlied“ leicht tragisch grundiert (Geständnis vom Übertreten der zehn Gebote), dennoch werden „himmlische Freuden“ vom gütigen Gott garantiert. Im Finalsatz der 4. Sinfonie wird Ähnliches vom Solosopran verkündet. Dem „Lustig im Tempo und keck im Ausdruck“ der „Dritten“ geht ein „Misterioso“ voran, in welchem eine Altistin die dunkle Mitternacht beschwört (Text aus Friedrich Nietzsches „Zarathustra“).

Daß die Uraufführung der 3. Sinfonie im kleinstädtischen Krefeld stattfand, hatte wohl auch mit organisatorischen Problemen zu tun. Hinzu kam aber fraglos die Tatsache, daß Publikum und Kritik Mahler in Wien, wo er an der Hofoper wirkte, nicht immer wohlgesonnen waren. Der Komponist hatte für solche Abwehr ein gewisses Verständnis. Hinsichtlich seiner „Dritten“ äußerte er sich beispielsweise: „Das Ganze ist leider wieder von dem schon so übel beleumdeten Geiste meines Humors angekränkelt, und (es) finden sich auch oft Gelegenheiten, meiner Neigung zu wüstem Lärm nachzugeben. (Es) zeigt sich da meine ganze wüste und brutale Natur in ihrer nackten Gestalt. Daß es bei mir nicht ohne Trivialitäten abgehen kann, ist zur Genüge bekannt. Diesmal übersteigt es allerdings alle erlaubten Grenzen.“ Wir, die wir die Musik Mahlers heute fast kultisch verehren, lassen uns auf Skurrilitäten und Weitschweifigkeiten aber gerne ein.

Die „Dritte“ besitzt extreme Dimensionen. Der Introduktionssatz beansprucht über eine halbe Stunde (bei Mozart, Schubert u.a. hat das für eine ganze Sinfonie gereicht). Dennoch befremdete es ein wenig, daß Francois-Xavier Roth nach der 1. Abteilung eine Foyerpause gestattete. Die Tatsache, daß Mahler eine solche Unterbrechung am 19. Juni 1902 ebenfalls zuließ, sollte indes nicht als „heimliche Aufforderung“ verstanden sein. Vor über hundert Jahren war die Präsentation eines derart langen Werkes noch ein veritables Wagnis. Das gilt heute nur noch bedingt, zumal wenn man die Gewöhnung an Wagner-Dimensionen bedenkt. Auch das Betreten der Sänger in die mittlere hintere Empore erst kurz vor Einsatz verlief gänzlich störungsfrei

Gustav Mahlers 3. Sinfonie ist so etwas wie die Beschreibung eines Lebenskosmos, verbal romantisiert als „Sommermittagstraum“, wie es der Komponist in einer Werküberschrift formuliert. Werden und Vergehen werden zu Klang; Blumen, Tiere, Engel, der Mensch und – im seinerseits sehr ausgedehnten Finale – die Liebe erzählen vom Sein. Man spürt in der Musik Mahlers Suche nach neuen Ausdrucksbereichen, grundsätzlich aber bleibt sie tonal grundiert, nicht zuletzt in dem religiös inbrünstigen, emotional atemverschlagenden Schlußsatz. Francois-Xavier Roth forderte das Gürzenich-Orchester speziell hier zu einer narkotisierenden Interpretation heraus, behielt jedoch die Klangverläufe unter intellektueller Kontrolle, verlor sich nicht in einem emotionalem Nirwana. Dennoch ließ ihn die Musik körperlich ungemein vibrieren.

Es wäre kleinlich, die wenigen Liveschwächen des Abends (es handelte sich um das mittlere von drei Abo-Konzerten) zu monieren, im Grunde überhaupt zu erwähnen. Sowohl der führende Posaunist des Orchesters (von Roth beim Schlußapplaus demonstrativ umarmt) als auch der namentlich nicht genannte Solist der mirakulösen Posthorn-Soli (wo man verstohlen zum Taschentuch greifen mußte) waren Top-Interpreten. Die Chöre (Schola Heidelberg, Mädchen und Knaben des Kölner Doms): einwandfrei. Die italienische Mezzosopranistin Sara Mingardo sang “O Mensch” konzentriert und wohllautend. Eine Christa Ludwig oder Jessye Norman haben sich noch etwas pastoser und glühender geäußert, aber dieser Gedanke kam einem erst lange nach der Aufführung.

Christoph Zimmermann (3.10.2018)