Köln: Riccardo Muti & Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks

In jeder Hinsicht beschwörend

Dem einst gegenüber Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ erhobenen Vorwurf einer für Sakralmusik überdramatisierten Tonsprache dürfte heute niemand mehr zustimmen. Eine ausverkaufte Philharmonie zeigte vielmehr, dass der glutvolle Stil des „Requiems“ eine ganz besondere Faszination ausübt. Sie wurde gesteigert durch eine Interpretation auf allerhöchstem Niveau:

Riccardo Muti dirigierte Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sowie ein erlesenes Solistenensemble. Dass Elina Garanca, vor einiger Zeit eine hinreißende Eboli in Paris, ihre Mitwirkung krankheitsbedingt absagen musste, war zwar sicherlich bedauerlich, hätte man doch gerne die neuerliche Facherweiterung der lettischen Künstlerin in Richtung Verdi erlebt. Freilich zeigte sich Anita Rachvelishvili nicht als simpler Ersatz, sondern als aufregende Alternative. Durch sie fügte es sich auch, dass sämtliche Gesangssoliten ein Köln-Debüt absolvierten. Neben der georgischen Mezzosopranistin waren dies Krassimira Stoyanova , Francesco Meli und

Riccardo Zanellato

Sein eigenes Debüt beim Bayerischen Rundfunk hatte Riccardo Muti 1981 gegeben – mit Verdis „Requiem“. Gemäß einem Bericht von damals war dies ein „legendäres Konzert“, wie es der Dirigent auch selber empfand. Wie würde die jetzige Aufführung vor solch verklärender Bewertung bestehen? Sie bestand auf wahrhaft grandiose Weise, auch wenn für diese Behauptung reale Hörerfahrung als letzter Beweis fehlt.

Was bei der aktuellen Darbietung von Verdis singulärem Werk sogleich auffiel, war die gegenüber anderen, extatisch vorwärtstreibenden Interpretationen die Wahl partiell abgebremster Tempi, so etwa beim „Dies irae“, welches als donnerndes Mahnmotiv das Werk durchzieht. Von „langsam“ ist freilich nicht zu sprechen, eher von einer durch solch agogische Reduktion gesteigerte Innenspannung. Über die Aufführung drei Tage zuvor in München hieß es über Muti in einer Rezension: „Klangliche Expansion begriff der 76-Jährige nicht als Effekt, sondern als Notwendigkeit.“ Das zeigte sich auch bei den gegenüber früheren Jahren fraglos breiter genommenen Ritardandi. Diese erweckten freilich nicht den Eindruck einer altersbedingt reduzierten, sondern vielmehr einer alterweise beflügelten Haltung gegenüber dem Werk. Andererseits gaben die wuchtigen, geradezu niederschmetternden Schläge der großen Trommel im konvulsivischen „Dies irae“ Raum zu dramatisch größtmöglicher Ausdrucksentfaltung.

Das Orchester (mit erstaunlich vielen jungen Damen in der Reihe der ersten Violinen) sorgten bei Verdis hochemotionaler Musik für eine Dringlichkeit es Ausdrucks, welche sich in die Nerven der Zuhörer geradezu hinein bohrten. Die vielen ätherischen Tremoli erklangen wiederum wie ein Gruß von anderen Planeten. Besonders hervorzuheben wären die lichtvollen Unisono-Passagen der Celli zu Beginn des „Offertoriums“. An instrumentatorisch bestechenden Stellen zu erwähnen ist auch das Frauen-Duett des „Agnus Dei“ mit der Begleitung von lediglich drei Flöten.

An die erstaunliche Entstehungsgeschichte des Werkes wäre mit einigen Worten noch zu erinnern. Als 1868 Gioacchino Rossini starb, regte Verdi eine Totenmesse an, zu welcher Italiens renommierteste Tonsetzer je einen Abschnitt beitragen sollten. Die Komposition (Verdis Anteil war das „Libera me“) wurde zwar vollendet, doch die Uraufführung scheiterte an bürokratischen Hindernissen. Erst 1988 (!) fand in Stuttgart unter Helmuth Rilling die Premiere statt. Als 1873 der allseits verehrte Schriftsteller Alessandro Manzoni starb, kam Verdi auf die Totenmesse zurück, nun aber mit der Absicht einer vollständig eigenen Komposition. Dieser gelang ein Siegeszug durch die ganze Welt, welcher bis heute anhält.

Riccardo Mutis kritisches Verhältnis zum sogenannten Regietheater ist bekannt. Dass er sich für die von ihm dirigierte „Aida“ im diesjährigen Salzburg (weitgehend abgelehnte Regie: Shirin Neshat) positiv ausspricht, hat noch einmal irritiert, doch darf man sein Votum auch als Stachel im Fleisch verstehen. Bei Verdis „Requiem“ ging es jetzt aber ausschließlich um Musik, ohne visuelle „Störungen“. Der Kölner Abend geriet zu einem Glückserlebnis, einer „Sternstunde“, als welche kürzlich auch die Widergabe von Gustav Mahlers dritter Sinfonie durch den mittlerweile an den Rollstuhl gefesselten James Levine und die Staatskapelle Berlin empfunden wurde. Die magische Ausstrahlung der frenetisch bejubelten Kölner Verdi-Aufführung wirkte noch lange nach.

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zeigte sich allen Herausforderungen der differenzierten Partitur aufs Glücklichste gewachsen, ebenso der von Howard Arman einstudierte Chor. Die Bulgarin Krassimira Stoyanova, mittlerweile jenseits der fünfzig, frappierte mit ihrem nach wie vor klangvollen und höhensicheren Sopran (bei plausibler Ausdrucksintensivierung im „Libera me“), Anita Rachvelishvilis erotisch pulsierender Mezzo zeigte sich zwischen Diven-Aplomb und hauchzarten Piani jedweder Anforderung gewachsen, Francesco Meli bot tenoralen Glanz, aber auch hinreißende Mezza-Voce-Kunst („Ingemisco“). Bei Riccardo Zanellatos bassrundem, stilvollem Gesang mochte man allenfalls ein Quentchen jener Timbreautorität vermissen, wie sie in der Vergangenheit einem Cesare Siepi oder Nicolai Ghiaurov eigen war.

Muti (c) Silvia Lelli by courtesy of www.riccardomutimusic.com

zanellato (c) Luciano Siviero, Stoynaova (c) Brescia e Amisano © Teatro alla Scala

meli (c) Künstleragentur

Christoph Zimmermann (5.11.2017)