Buchkritik: „Dido and Aeneas“, neu ediert

Die Oper gilt, noch vor der zuvor uraufgeführten Venus and Adonis-Oper John Blows, als erste englische Oper – dies vor allem deshalb, weil sie, anders als Blows Werk, seit ihrer Wiederaufführung durch Benjamin Britten in den frühen 50er Jahren, ihren Rang als international gerühmtes und beliebtes Werk behielt. Wer immer Purcells „Dido and Aeneas“ hört, wird sich, falls er nicht taub ist, des Zaubers nicht entziehen können, der immer noch von „Didos Lament“ ausgeht.

Umso trauriger, dass ausgerechnet dieses exzeptionelle Werk der frühen englischen Oper nur als Fragment auf uns gekommen ist. Es fehlen nicht allein die Musik zum (textlich überlieferten) Prolog, sondern auch der Chor und der Tanz am Ende des 2. Akts, die zusammen mit den aufführbaren Dances aus dem Werk eine Ballet Opera ganz eigenen Ranges machen, ja: Selbst und gerade mit der Integration der Tänze hat Purcell zusammen mit seinem Librettisten Nahum Tate ein Musikdrama vorgelegt, das Richard Wagner, wäre er ein Kenner Purcells (und Monteverdis) gewesen, vielleicht davon abgebracht hätte, von der neuen Erfindung des Musikdramas zu sprechen. Grund genug also, sich immer wieder der philologischen Erschließung des Werks zu nähern. Die Neuausgabe, die der Bärenreiter-Verlag im Jahr seines Centenar-Jubiläums vorgelegt hat, kann für sich beanspruchen, den bereits vorliegenden Partitur-Ausgaben eine neue an die Seite gestellt zu haben, die unser Bild des Werks zwar nicht revolutioniert, aber en detail schärft. Es verhält sich hier manchmal wie mit der kritischen Edition der „Meistersinger von Nürnberg“: keine Note – oder zumindest kaum eine Note – ist anders, aber wenn Artikulationen, Notenlängen und Bindebögen auf ihren rekonstruierten Urzustand zurückgeführt werden, klingt auch die Musik ein wenig anders. Kein Vergleich musss gezogen werden zu den Ausgaben einer Meyerbeer-Oper wie der „Huguenots“ oder des „Vasco da Game“, vulgo: der „Afrikanerin“, in der der jahrhundertealte Schutt, der sich über die Aufführungs- und Produktionsgeschichte gelegt hat, erst einmal abgetragen werden musste. Im Fall von „Dido and Aeneas“ befanden und befinden sich die Ausführenden in einer relativ komfortablen Situation, denn es liegen bereits gute Editionen vor. Nun aber wurden das sog. Tenbury-Manuskript aus den frühen 1770er Jahren und das Nanki-Manuskript, das bis spätestens 1774 erstellt wurde, im Vergleich zum entscheidenden „score“ neu gewichtet. Bekanntlich entstanden die ersten überlieferten Manuskripte erst Jahrzehnte nach der Uraufführung des Werks, die, laut Herausgeber Robert Shay, bis 1687 oder spätestens Juli 1688 über die Bühne des Mädchenpensionats ging, nachdem die Komposition vielleicht bereits 1685 abgeschlossen war. Der Herausgeberkommentar umfasst alle relevanten – und dicht gesäten wie durch die neueste Literatur abgesicherten – Fakten und Vermutungen, die es verstehbar machen, wieso für die Neuausgabe weder TE noch NA, wie die Kürzel für die beiden zitierten Manuskripte lauten, sondern TP als „Leithandschrift“ benutzt wurde: weil diese Kopie, das sog. Tatton-Park-Manuskript, das im Anhang auf drei Seiten fotografisch dargestellt wird, den vermuteten Originalzustand in Abgleich zu den zwei anderen wichtigen Abschriften (die gleichfalls auf Purcells Original zurückgehen und andere Varianten aufweisen) am besten repräsentiere, weil der Schreiber Philipp Hayes über die Kenntnis originaler Purcell-Handschriften verfügte. Die älteste Handschrift muss eben nicht immer die zuverlässigste sein.

Außerdem verzeichnet der kritische Apparat die nicht ganz wenigen abweichenden Lesarten der anderen bekannten Abschriften des verloren gegangenen Urmanuskripts. Der Gewinn für den Leser, der es genau wissen will, ist auch dort ersichtlich, wo nicht allein die alternative Version des Songs „Ah! Belinda“ aus einem Druck von 1698 separat mitgeteilt wird, während sich die Kollation, wie das literaturwissenschaftliche Zauberwort heißt, nicht auf die obigen Manuskripte beschränkt. Als weitere Vergleichsquellen dienen vier weitere „sources“, wobei die genauen Editionsprinzipien und Manuskript-Beschreibungen allein dem englischsprachigen Anhang vorbehalten sind, während die Einleitung sowohl im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung dem Leser zur Verfügung steht.

Wie immer man auch die Relevanz des neuedierten Manuskripts, die man kaum als „Fassung“ bezeichnen kann – es sei denn, man spräche von einer Fassung mit alternativen Lesarten im Mikrobereich –, im Vergleich zu den vormals publizierten Partituren beurteilen mag: dass Shay eine skrupulöse Transkription mit genau bezeichneten Änderungen vorgelegt hat, dürfte ihm die Purcell-Forschung und Aufführungspraxis danken. Zwar liegen längst Faksimile-Drucke des sog. Chelsea-Librettos vor, durch das wir eine genaue Vorstellung des vertonten wie unvertonten Texts haben, doch war es sinnvoll, es noch einmal im großzügigen Druck zu bringen, weil es zusätzlich zur Edition des Notentexts weitere Informationen, nämlich die der Szene, aufweist. Dass die erste Szene des 1. Akts im „Palace“ spielt, erfährt man nur aus dem Libretto, das die nötigen Hinweise auf die Spielorte und musikalisch verlorenen Dances gibt. An diesen Stellen bemerkt man leider, dass die Ausgabe von einem versierten Musik-, doch nicht von einem opernaffinen Musiktheaterwissenschaftler gemacht wurde, auch wenn manch Regieanweisung (die nicht im Chelsea-Libretto steht) im Notentext zu finden ist, der Komplettabdruck des Librettos in seiner faksimilierte Originalgestalt für die Abwesenheit vieler  weiterer Regieanweisungen entschädigt und sich Shay ausgiebig über die aufführungsrelevanten Hinweise im Chelsea-Libretto äußert. Interessant ist ja schon die Bemerkung, dass für Aufführungen, die nach der Uraufführung in Josias Priests Internat stattfanden, „die Hexen und Furien wieder eingeführt werden sollten und wir zudem annehmen können, dass Tate und Purcell die Oper auch dergestalt angelegt hatten“. Die Publikation des Manuskripts folgt also einer Internats-Version, die – durch Auslassung der szenisch nötigen Anweisungen – das Ideal einer quasi konzertanten Aufführung repräsentiert, die so weder stattfand noch im Interesse der Autoren lag, wie immer auch die Uraufführung, die im Chelsea-Libretto textlich repräsentiert wurde, in den Details der Inszenierung aussah. Es muss hier verwundern, dass die szenischen Anweisungen einer Textversion, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Uraufführung zugrunde lag, als Einzeldruck, doch nicht als integraler Bestandteil des Notendrucks publiziert wurde.

Die Fehlstellen fallen also nur jenem Leser auf, der Beides zugleich aufschlägt: den Noten- und den Librettotext, der für das Verständnis der Oper unabdingbar ist, auch wenn die Musik und die dadurch mitgeteilten Affekte und Argumentationen die Hauptrolle spielen. Über die Dignität der Edition, deren Prinzipien zumal im Kapitel „Editorial methods“ erläutert werden, ist nicht zu rechten, solange man sich auf die Hauptsache: den Notentext und das Vorwort sowie den „Critical Report“, konzentriert. Spannend ist bereits die Analyse der im Libretto genannten, aber nicht überlieferten Tanzmusik; neuere Aufführungen – und schon Brittens Fassung – behalfen sich mit variativen Wiederholungen vorangegangener oder folgender Teile, wobei Shay die stimmige Vermutung äußert, dass bereits im späten 17. Jahrhundert die genannten Tänze nicht eigens komponiert vorlagen, sondern aus dem vorliegenden Material herausgespielt worden sind. Hier aber liegt bereits ein Grund für den Umstand vor, dass das edierte Manuskript das wichtigste sein könnte: indem diese Partitur den zweiten Schluss des Chors „With drooping wings, ye Cupids come“ untextiert lässt. So entlässt der Herausgeber den Leser im schönen Gefühl, dass denn doch nicht alles verloren ist, was jenseits des nicht in einer Vertonung vorliegenden Prologs einst an originaler Purcell-Musik vorhanden war. Über die Enstsehungsgründe und politischen Implikationen am englischen Königshof wird der Leser ebenso aufgeklärt wie über die möglichen allegorischen Inhalte, wobei der konzise Forschungsbericht sich schließlich damit begnügen muss, zu konstatieren, dass es mit der Politik wohl nicht so weit her war. Am Ende siegt das reine Gefühl über jegliche historische Konketion.

Ebenso skrupulös sind Shays Anmerkungen zur rhythmischen Gestalt der Oper und zu den Verzierungen, einem Gebiet, das notorisch frei zu sein scheint, indem es zwischen Freiheit und Konvention, gedrucktem und gesungenem Text fast immateriell vermittelt. Der Separatdruck von „Ah! Belinda“ gibt da einige, von Purcell selbst herrührende Ausschreibungen, die Rückschlüsse auf den übrigen Gesangspart zu lassen. Ebenso wichtig sind, zumindest für heutige Interpreten, die Anmerkungen zu den Problemen der Tempogestaltung, der Gesangsstimmen und der Instrumente – was nicht heißt, dass alles, was über den Streicher und basso-continuo-Satz hinausgeht, um es mit Bläsern und Schlagwerk zu vergrößern, per se falsch wäre.

Im Sinne einer lebendigen Musizierpraxis spielen die philologisch dreimal geprüften Noten also eine dialektische Rolle: einerseits sind sie das Fundament, auf dem sich, im Stil einer dem jeweiligen Aufführungsort und der jeweiligen technischen Möglichkeiten angepassten Aufführungsfassung, wie sie für das 17. und 18. Jahrhundert gängig war, das Gebäude der musikalischen Interpretation erheben muss. Andererseits ist es gerade die Genauigkeit der Edition, die dem Musiker verlässlich sagen kann, wie weit er mit seinen Interpretationen in Sachen Instrumentation, Verzierung und Ergänzung (der fehlenden Teile und Übergänge zwischen den Szenen und Akten) gehen kann. Um eine Aufführung nach Purcell, die keine falsche Note enthält und doch frei von Stereotypen ist, erst einmal zu gestalten, bedarf es also der Publikation oder des Studiums sämtlicher Quellen. Wer wissen will, wie eine moderne und ästhetisch hinreißende Inszenierung der Oper im Stil des Barock und doch darüber hinaus heute aussehen kann, sollte sich nur die mitreißende und bewegende Aufführung anschauen, die 2017 im Barocktheater zu Versailles über die Bühne ging: https://www.youtube.com/watch?v=Q3Vs3YXQp5U.

Und „Didos Lament“? Wie sieht die berühmte Schlussnummer vor dem finalen Chor in Shays Edition aus? Hier ein Bindebogen mehr, dort der Vorschlag eines Bindebogens. Also nichts Gravierendes. Nur kurz zuvor, im vorletzten Takt des Rezitativs, gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, eine Abweichung vom Gewohnten. Da singt die Dame Dido auf die zweite Silbe von „come“ (in „Death is now a welcome guest“) nicht das übliche „c“, sondern ein „cis“, was dem Ausdruck einen schmerzlichen Akzent verleiht, den er vorher nicht hatte. Zwar gibt es ältere Partiturdrucke, in denen die Note auftaucht, aber dort ohne die typische, und ausdrucksgeladene Synkopierung. In jüngeren Partiturausgaben erscheint regelmäßig das „c“ statt des nahen und doch so andersartigen „cis“. Der kritische Stellenkommentar versorgt uns nun auch mit der Information, dass das „cis“ in TP durch den „Instrumental Bass“ bestätigt wird. Wer sich über die „Augmented 6th“ im England des späten 17. Jahrhunderts informieren möchte, bekommt per Fußnote sogleich den Hinweis auf einen betreffenden Aufsatz von 2013. Eine kleine Variante – aber, bezogen auf Didos Affekt, eine nicht ganz unwichtige.

Das sind so Mehrwerte der Edition. Der liebe Gott, auch der Musik, steckt eben immer im berühmten Detail.

Frank Piontek, 7. Juli 2023


Henry Purcell: Dido and Aeneas

Bärenreiter Urtext

Score / Partitur. Hrg. von Robert Shay

104 Seiten. 11 Abbildungen. Bärenreiter Verlag, 2023