Münster: „Mass“, Leonard Bernstein

 

© Bettina Stöß

Bekanntlich wurde 1648 in Münster und Osnabrück nach 30 Jahren verheerenden Kriegs der „Westfälische Frieden“ geschlossen. Daran wurde letztmalig zum 350-jährigen Jubiläum ausgiebig in Wort und Schrift erinnert. Das 400-jährige werden die heute einflussreichen Politiker wohl nicht mehr in ihren jetzigen Positionen erleben. Um trotzdem – und das berechtigt – zu erinnern, hat man in diesem Jahr 2023 ein „krummes“ 375-jähriges Gedenken dazwischengeschoben.

Auch beim Theater Münster wird bei jeder Verlautbarung an „peace“ erinnert. Da im 30-jährigen Krieg zumindest vordergründig aber erbittert über religiöse Themen gestritten wurde, und der Friede insofern auch ein Religionsfriede war, wurde die Spielzeit in Münster spartenübergreifend eröffnet mit dem Theatre Piece (Theaterstück) „Mass“ (Messe) für Sänger, (Solostimmen und Chöre), Spieler (großes Orchester in verschiedenen Besetzungen) und Tänzer von Leonard Bernstein, uraufgeführt 1971 zur Eröffnung des Kennedy-Kultur-Zentrums in Washington DC. 

© Bettina Stöß

Bernstein vertonte mit seinen kompositorischen Mitteln in einem Stilmix von Jazz, Rock, Blues, aber auch expressionistischen Passagen, sogar einem Zitat von Beethoven in einer der „Mediationen“ genannten orchestralen Zwischenspiele, den lateinischen Messtext des römisch-katholischen Gottesdienstes. Dazwischen wurden dessen selbstsichere Aussagen hinterfragende oder widersprechende Texte (Tropes genannt) von Stephen Schwartz und Bernstein selbst eingebaut. Daß solche Religionszweifel für alle Religionen gültig sein sollten, zeigte etwa die Abwandlung von „Sanctus“ in Hebräisch „Kaddisch“ oder von „Dominus“ in „Adonai“.

Erfreulicherweise ohne überflüssige Aktualisierungen ließ Regisseur Tom Ryser das gesamte Stück passend zum Inhalt spielen. Dazu baute Stefan Rieckhoff eine riesige gotische Kathedrale mit bunten spitzbogigen Fenstern, die sich über die gesamte Bühne erstreckte, etwas nachempfunden der Lamberti-Kirche zu Münster. So fand die große Anzahl der Mitwirkenden einschließlich der drei Tänzer (Choreografie Lillian Stillwell) dort genügend Platz. In die Mitte wurde ein großer, katholischem Brauch nachempfundener Altar geschoben

Die  Messfeier begann schon zwiespältig, indem nach einem Gebet des „Zelebranten“  – der Priester am Altar – das „Alleluja“ gesungen wurde vom aus Rock-Sängern, Blues-Sängern und Solostimmen zusammengesetzten „Street Chorus“, kostümiert als Skelette (Kostüme auch Stefan Rieckhoff). Dieser „Straßen Chor“ – zum Teil dann auch in Straßenkleidung – widerlegte in den „Tropes“ die Glaubenssätze, die zuvor vom Zelebranten, vom Großen Chor und  vom als Messdiener tätigen Knabenchor verkündet worden waren. Passend trugen letztere alle feierliches Weiß. Als Beispiele seien genannt die fortissimo vorgetragene Aussage „Was ich sage, fühle ich nicht, was wirklich ist, weiß ich nicht“. Nach dem „Gloria“ merkte der Street-Chorus an, daß die „Hälfte der Leute voll Rauschgift (stoned) sei, abgesoffen sei oder in die falsche Richtung schwimme. Auf das „Credo“ folgte „Non credo“ und auf die Aussage im Schöpfungsbericht „Gott fand es gut“ die Beschreibung, daß gar nichts gut sei.

Dagegen wollte als einziger Mitwirkender mit persönlicher Entwicklung der „Celebrant“ die Messe im üblichen Ritus abhalten. Schauspielerisch und stimmlich gestaltete der Musical-Sänger Samuel Schürmann souverän alle Facetten dieser riesigen Partie. Der große Stimmumfang von hoch bis tief und die dynamische Bandbreite zwischen ppp und fff gelangen mit sich noch zum Schluß steigernder Intensität. Zuerst kamen ihm ebenso wie den Chören der Mitfeiernden bereits nach dem „mea culpa“ des „Confiteor“ erste Zweifel. Später suchte er Sicherheit in einem immer pompöseren Messgewand. Es nutzte aber nichts: Wenn Gott seine Schöpfung gut fand, wurde dem Zelebranten das Gegenteil bewußt. Trotzdem beharrte er mit wiederholten Aufforderungen zum Gebet und nach dem nur von ihm mit einem Finger auf einer fiktiven Klaviatur auf dem Altar begleiteten „Vater unser“ noch, er müsse weitermachen: „I go on“. Nach dem „Agnus Dei“, als sogar der Chor der Gläubigen nicht „panem“ (Brot) sondern „pacem“ (Frieden) verlangte, änderte sich seine Haltung. Nach dem „Ich bin nicht würdig“ stellte er fest, daß gebrochenes Glas heller scheint als heiles, entledigte er sich seines Priestergewandes und warf Kultgegenstände wie Monstranz und Kelch klirrend zu Boden. „Things get broken“ (Alles zerbricht), auch sein Selbstbewusstsein, mußte er in einem längeren Monolog sich eingestehen.

© Bettina Stöß

Danach folgte trotzdem ein Hoffnung verheißender Schluß. Die jetzt weißen Kirchenfenster ließen Licht auf die Bühne. Ein musikalischer Höhepunkt des Abends war dann nach der vorherigen teilweise vollen Musical-Dröhnung von Orchester und „Street Chorus“ der ganz zurückgenommene, zunächst nur von Harfe und Flöte begleitete „simple Song“, mit dem der Abend begonnen hatte – jetzt als Duett zwischen dem früheren Zelebranten und dem Knaben-Sopran (dieser verdient besondere Bewunderung).  Nach und nach sangen die Chöre, durch den Zuschauerraum das Theater verlassend, das auch zu Beginn gesungene Lob Gottes („Lauda, lauda laudé“) mit der Bitte um Gnade für alle, aber nicht mehr nach vorgeschriebenen früheren Riten. Das Amen verklang dann im Nichts (diminuendo al niente)

Stellvertretend für die Solo-Sängerinnen und -Sänger sei erwähnt Katharina Sahmland, die im einleitenden „Kyrie“ aus dem Off in Stakkato gewagte Koloraturen bewältigte oder im „Thank you“ schönes Legato sang.

Ganz maßgeblich zum Gelingen der Aufführung trugen neben den Solisten des „Street Chorus“ der Chor und Extrachor des Theater Münster in der Einstudierung von Anton Tremmel sowie der „Boys Choir“, zusammengesetzt aus Schülerinnen und Schülern des Gymnasium Paulinum, bei (Einstudierung R. Stork-Herbst, M. Sandhäger und J. von Wensierski).

Das Sinfonieorchester Münster war in verschiedener großer und kleiner Besetzung zu hören, und die Bläser zusätzlich wie die Chöre in Weiß gekleidet in wechselnder Stellung auf der Bühne zu sehen. Von letzteren seien hervorgehoben das Horn-Solo vor dem Gebet „Allmächtiger Vater“, das der Oboe und die Flöten-Soli zu Anfang und Ende bei den „Simple songs“.

© Bettina Stöß

Ganz entscheidend für den Erfolg der Aufführung war die musikalische Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg. Trotz der häufigen Taktwechsel, der starken rhythmischen Gegensätze, besonders beim umfangreichen Schlagzeug, der fast immer sich bewegenden Chöre, des teils auf der Bühne, teils im Graben positionierten Orchesters, koordinierte er souverän und präzise das musikalische Geschehen – eine grandiose Leistung!

Ein weiterer „Player“ trat ohne Nennung im Programmheft noch vor dem Beginn der Aufführung auf: Das war Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe, der vor dem von ihm geladenen Publikum einige Worte über die Bedeutung des Theaters in unserer unruhigen Zeit äußerte. Dieses Publikum feierte die Aufführung mit herzlichem Beifall und Bravos als Dank für diesen ergreifenden Abend.

Sigi Brockmann, 4. September 2023


„Mass“
A Theatre Piece for Singers, Players, and Dancers von Leonard Bernstein

Theater Münster

Premiere: 26. August 2023
besuchte Aufführung: 2. September 2023

Regie: Tom Ryser
Dirigat: Thorsten Schmid-Kapfenburg
Sinfonieorchester Münster