Lübeck, Konzert: „Mahler, Schostakowitsch“, Viktoria Mullova

An musikalischen Glanzpunkten ist Lübeck in den vergangenen Jahren immer reicher geworden und das 4. Symphoniekonzert am 18. Dezember in der „Musik- und Kongreßhalle“ war ganz zweifellos einer davon. Die Hansestadt verfügt ja nicht nur über ein exzellentes Philharmonisches Orchester unter der Leitung von GMD Stefan Vladar, sondern lädt immer wieder Gäste der Weltspitze ein, diesmal die Violinistin Viktoria Mullova für eine mitreißende Wiedergabe des 1. Violinkonzerts von Dmitri Schostakowitsch.

(c) Heike Fischer

Dieses Konzert ist, wie so viele Werke des Komponisten, von der Angst vor dem langen Arm des Diktators Stalin geprägt und es nimmt nicht wunder, daß gerade aus dem ersten Satz eine düstere Beklemmung spricht. Diese Musik, eben eine Nocturne, passte so gut zur Dunkelheit dieser Tage; es ist wie der Gang eines einsamen Wanderers durch einen Wald mit winterlich entlaubten Bäumen zur Abendstunde, die nur noch schwach erhellt ist von der Ahnung der kargen, fahlen Sonnenstrahlen, welche die winterliche Finsternis nie ganz durchbrechen konnten.

Kaum wagt die Violine zu flehen, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erwecken – die Notenfolge D-Es-C-H verweist als charakteristisches Namenskürzel für Dmitri Schostakowitsch auf den autobiographischen Bezug des eindringlichen Werks. Nur selten heben sich aus der Violine die Höhen wie kleine Lichtsäulen oder zaghafte Klangblüten durch die dunkle Nacht. Der Folgesatz, ein Scherzo, entbehrt selbstverständlich jeder wirklichen Leichtigkeit und wirkt getrieben, ja gehetzt. „Frisch auf! Zum Tanz!“, scheint dieser Satz gleich am Beginn zu fordern, aber es ist völlig klar, dass aus der unruhigen Rhythmik nur das Zerrbild eines Tanzvergnügens spricht. Dennoch – und dies „dennoch“ steht über diesem Satz – flammt ein kämpferischer Trotz auf, die Blechbläser schreien geradezu gegen die aufstrebende Violine an. Dass sich das wiederum aufgenommene D-Es-C-H mit einem jüdischen Tanzmotiv mischt, ist ein solidarischer Gruß des Komponisten an das auch in der Sowjetunion unterdrückte Judentum.

Harsch tönt die Selbstbehauptung, die im ersten Satz noch Klage war, und all das gibt Viktoria Mullova mit der stoischen Mimik eines Vulkaniers wieder. Ihr Spiel ist – dem diametral gegenübergesetzt – von mitreißendem Feuer. An Virtuosität und inhaltlicher Aussage steht der dritte Satz, zunächst eine Passacaglia, im Zentrum des Konzerts. Von der Stimmung her wechseln gebrochene und triumphale Aspekte einander ab, dann gibt es, gerade durch die Holzbläser, wieder melancholische Wendungen, die die Violine aufnimmt. Man findet hier sangbare, ja melodische Linien, einen Versuch des Optimismus, der sich aus den tiefsten Abgründen immer wieder emporkämpft. Die Kadenz meistert die Künstlerin mit unfassbarem Tempo, Abbrüchen und Wechseln in den Stimmungen und Spielweisen, die oft in Sekundenbruchteilen aufeinanderfolgen. Man hätte dem gebannten Lübecker Publikum fast schon einen Applaus nach diesem Satz nachsehen können, aber alle im Saal würdigen diese Höchstleistung sprachlos. Das Orchester spielt mit der Violinistin auf Augenhöhe, Vladars Dirigat ist ebenso einsatzfreudig wie, bei allem Enthusiasmus, dem Werk entsprechend dann zurückgenommen, wenn die Solovioline allein im Vordergrund steht. Im abschließenden Burlesque-Satz fällt das Orchester in eine wilde Jagd; man denkt an ein junges Pferd, das alles, was sich ihm in den Weg stellt, über den Haufen zu rennen vermag. Tanzthemen bahnen sich wieder ihren Pfad wie Straßenmusiker durch eine Volksfestmenge, aber es bleibt unklar, ob dies Fest fröhlich enden wird oder in der Katastrophe.

Den begeisterten Beifall für die grandiose Umsetzung dieses Konzerts beantwortet die Künstlerin mit einem Bach-Partita-Satz und das ist eben kein neoromantischer Kuschel-Bach, sondern einer mit herben, ja spröden Kanten. Alles andere hätte auch verwundert.

(c) Harald Weichering

Mahler und Schostakowitsch waren Brüder im Geiste und der Russe hat die Musik des Böhmen sehr geliebt. Daher ist die Kombination mit der Ersten Symphonie eine glückliche Wahl, zumal die ja, synästhetisch gesprochen, in ihrem Wald- und Frühlingknospen-Grün eine erfrischende Antithese zur Düsternis des ersten Konzertteils darstellt. Klar, es gibt auch hier die üblichen Mahler-Ausbrüche und Katastrophen-Ahnungen, aber die „Erste“ (der Beiname „Titan“ führt außer dem Jean-Paul-Verweis nicht wirklich weiter; Mahler hat ihn in der Folge wie den hart am Kitsch vorbeischrammenden „Blumine“-Satz dann auch weggelassen) hat noch viel zu bieten an echter Naturfreude, Naturlauten und Naturgottheit.

Die sphärisch-zauberische Einleitung gelingt den Lübeckern in aller gebotenen symphonischen Breite und dem Emporheben eines mattgolden glänzenden Lichts. All die Waldlaute, Vogelstimmen und Hornthemen setzen gerade die Solinstrumente mit liebevoller Genauigkeit, aber eben geschmeidiger Wärme um. Vladar hat sichtbar Freude an seinem sehr beweglichen Dirigat und zupft, hebt, treibt, wedelt und rudert Klänge, Tonfolgen und Tutti-Einsätze aus dem Klangkörper heraus. Das „Ging heut morgen übers Feld“-Lied aus dem Zyklus „Lieder eines fahrenden Gesellen“ schenkt dem Satz – noch – eine unbeschwerte Jugendlichkeit, aber die dunklen Wolken drohen.

„Liebevoll“ trifft es wohl am besten, wie die Lübecker das machen und wer Mahler wirklich liebt, der kommt an diesem Abend auf seine Kosten. Der folgende Ländler-Satz lädt in seiner scheinbaren Unbekümmertheit in eine alpine Dorffröhlichkeit, der Walzer grüßt in die Großstadt Wien hinüber. Nur wer die Symphonie nicht kennt, wähnt sich in sicherer Unbekümmertheit.

Die wird im Bruder-Jakob-Trauermarsch des dritten Satzes nun deutlich gebrochen und der Kontrabaß erklingt in schwermütiger Wärme wie das Instrument eines einsamen Musikanten, der auf einem verwaisten Dorf-Rummelplatz eine Trauerklage anstimmt. Die Klezmer-Melodie im Trio läßt den Empfindsamen bereits erste Tränen über die Wangen rinnen und zumindest der Rezensent hat das Zitat des Lindenbaum-Liedes niemals zuvor mit solcher Zartheit erklingen gehört – wahrhaft meisterlich gespielt in der sanften Hingabe an diese Musik einer großen Seele; wie sanfte Küsse fallen die Blütenblätter nieder.

Dies ist eine Verschnaufpause, bevor sich in all seiner Macht der Finalsatz erhebt, mit prachtvollem Blech und Mahler-gerechten Fortissimo, die gerade bei den mächtigen Tutti den ganzen Saal und die Herzen erbeben lassen. Aus wilder Gewalt und wie von Urkräften hin- und hergeworfen, arbeitet sich aus den Steigerungswellen die Naturgottheit ans Licht und in sonnenglänzendem Triumph ragt schließlich das große Klangbild auf, wie ein Monument der uralten Kräfte.

Das kann nur Mahler und in Lübeck kann man hören, wie man so ein Natur-Heiligtum betritt. Langer Applaus eines berührten, beglückten Publikums. Danke!

Andreas Ströbl, 21. Dezember 2023


Musik- und Kongreßhalle Lübeck
Dmitri Schostakowitsch, Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77
Gustav Mahler, Symphonie Nr 1 „Titan“

18. Dezember 2023

Musikalische Leitung: Stefan Vladar
Violine: Viktoria Mullova
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck