Erl: „Götterdämmerung“, Richard Wagner

Wie kann es den ewigen Göttern dämmern? Gibt es eine Art Dämmerzustand vor der endgültigen Abschaffung göttlicher Macht? Den Begriff, der dieser Oper den Namen gab, hat niemand Geringeres als Snorri Sturluson, der Verfasser der um 1220 entstandenen „Prosa-Edda“, durch die wir so viel über die skandinavische Mythologie wissen, durch eine Fehlinterpretation in die Welt gebracht. Eigentlich bedeutet das altisländische „Ragnarök“ nämlich „Götterschicksal“. Es ist der gewaltige Kampf der Götter und Riesen, der den Untergang der bekannten Welt zur Folge hat.

Die Vision einer neuen Herrschaft des Friedens und der Liebe bei Snorri mag durch das Christentum beeinflußt worden sein, bei Wagner stürzt jedenfalls nur die alte Herrschaftsordnung zusammen – von totaler Vernichtung aller irdischen Existenz ist keine Rede. Was bleibt also am Ende übrig? Bevor diese Frage tatsächlich beantwortet wird, sei der abschließende Ring-Abend am 10. Juli 2024 im Festspielhaus Erl in der sich bei jedem Teil der Tetralogie steigernden Inszenierung von Brigitte Fassbaender entsprechend gewürdigt.

© Xiomara Bender

Auch diese Götterdämmerung ist voll inszenatorischer Geniestreiche und liebevoller Ideen, angefangen mit der Nornen-Szene, einem Handarbeitskreis aus drei liebenswert-trutschigen Damen, die das Schicksal der Welt an den Fäden ablesen, die sich den vor ihnen stehenden Kaffeekannen wissend entwinden. Marvic Monreal, Anna-Katharina Tonauer und Elizabeth Reiter stricken an riesigen Schals und tratschen wie alte Muttchen über den drohenden Untergang. Das ist ein erfrischender Verfremdungseffekt, der in bester Brecht´scher Manier über das Lachen zu tieferer Einsicht führen kann – Wagner hat ja ohnehin den V-Effekt erfunden und ihn eingesetzt, um, über den scheinbaren Umweg der Verlagerung in den Mythos, Gesellschaftskritik zu üben; solche wundervollen Einfälle sind eine konsequente Fortführung des Wagner´schen Ansatzes.

Reduktion ist eine der probaten dramaturgischen Techniken dieser Ring-Produktion; so gibt Brünnhilde dem scheidenden Siegfried nicht ihr Roß Grane mit, sondern – gleichsam als Talisman – lediglich einen Anhänger in Pferdegestalt. Den wird Brünnhilde später Gutrune vom Hals reißen (Siegfried hatte ihn ihr umgehängt) und schließlich dem gemordeten Helden auf den Scheiterhaufen legen.

Rekurrierend auf Wieland Wagners Ausspruch über Astrid Varnay gilt in Erl: Wozu braucht man ein Pferd auf der Bühne, wenn man eine Brigitte Fassbaender als Regisseurin hat, eine intelligent gemachte Bühne und phantasievolle Kostüme von Kaspar Glarner, atmosphärisch-zauberhafte Video-Projektionen von Bibi Abel, schließlich alles illuminiert von Jan Hartmann?

© Xiomara Bender

Christiane Libor als zur Sterblichen degradierte Wunschmaid und Vincent Wolfsteiner als Wotansenkel steigern beide ihre Leistungen aus dem vorangegangenen, bereits besprochenen Siegfried; auch hier gestalten die beiden, wie alle Mitwirkenden, die Sprache ungemein plastisch. Brünnhilde peitscht die Worte geradezu aus sich heraus, als sie des Verrats gewahr wird. Ihr Schrei, wenn Siegfried ihr den Ring von der Hand zerrt, läßt einem die Tränen in die Augen schießen. Wolfsteiner spielt mit einer witzigen Tölpelhaftigkeit und ist in seiner Unbedarftheit ebenso glaubhaft wie in aufrichtiger Liebesfähigkeit, aber er stellt auch den Gunther auf dem Walkürenfelsen nicht nur für Brünnhilde völlig überzeugend dar. Wiederum genügt hier eine der vorgehaltenen Masken, die leitmotivisch im ganzen Erler Ring eingesetzt werden. Siegfried verbindet Brünnhilde die Augen mit Gunthers Seidenschal, mit dem der Gibichung sie später an den Händen gefesselt triumphierend an den Hof führt.

Siegfrieds Schlichtheit wird an Gunthers Hof, wo das schicke Ambiente die familiären Abgründe mehr schlecht als recht überdeckt, bekanntermaßen schändlich ausgenutzt. König Gunther wird zwar von Manuel Walser gespielt, aber aufgrund einer plötzlichen stimmlichen Unpäßlichkeit vom eingesprungenen Daniel Schmutzhard gesungen. Das klappt einwandfrei, und der aus Salzburg rasch wie Siegfried auf seinem Nachen angereiste Bariton verleiht dem meist als Memme dargestellten Gibichungen-Chef hier eine Vielschichtigkeit durch die Mischung aus einem Rest an markiger Männlichkeit und deutlicher Überforderung. Dieser Gunther ähnelt mit seinen weißblonden Haaren Harry Potters intrigantem Gegenspieler Draco Malfoy und hat offenbar mal etwas mit einer seiner Hofdamen gehabt. Die versucht nämlich später, ihm eine Szene zu machen, was der Gibichungensproß unwirsch und hart abwürgt.

Robert Pomakov als Hagen ist großartig fies, aber nicht platt überzeichnet. Wie zuvor bei seinem Fasolt setzt er seinen Baß drohend und machtvoll ein, aber dieser Hagen hat auch menschliche Schwächen. An der gutsortierten Hausbar, die von „Jägermeister“ bis zu erlesenen Single-Malt-Whiskys einiges zu bieten hat, bedient er sich gern, wobei er sich stets am Allerwelts-Bourbon schadlos hält.

© Xiomara Bender

Billard spielt man gerne am Gibichungenhof, eben das Spiel, bei dem eine Kugel die andere anstößt; der Impuls dessen, der den Queue führt, überträgt sich auf alles, was beweglich ist. So nimmt das Schicksal der Götter und Menschen seinen Lauf und folgerichtig schnitzt Hagen bei der Schwurszene seinen Queue mit seinem Hirschfänger an und macht ihn zum bezeugenden Speer. Der finstere Halbbruder Gunthers ist aber auch nur ein Werkzeug seines noch düsteren Vaters Alberich, dem wiederum Thomas De Vries Schwarzalben-abgrundtiefen Charakter und vor allem Stimme verleiht. Irina Simmes als Gutrune hat sich gegenüber ihrer Sieglinde darstellerisch deutlich gesteigert, bleibt aber stimmlich etwas hinter den anderen Mitwirkenden zurück. Zanda Švēde hat ja schon als Erda brilliert, und ihre Waltraute hat gleichfalls weibliche Kraft und Charaktertiefe – man erkennt ihre Stimme in dieser Rolle kaum wieder!

Ebenfalls kraftvoll und zugleich exakt singt der Chor der Tiroler Festspiele Erl, die in Anzüge gewandeten Mannen stehen nicht nur herum, sondern agieren ebenso lebhaft wie die hier stummen Hofdamen.

Die Rheintöchter sind, wie im Rheingold, wiederum Ilia Staple, Karolina Makuła und Katharina Magiera; diese humorvollen und zugleich wissenden Mädchen spielen mit Wasserbällen wie Kinder; sie werden den Weltenbrand in ihrer Arglosigkeit überleben.

Das Inferno beginnt unbeschreiblich stimmungsvoll damit, daß sich die großen, sich verjüngenden Bretter, die Waldbäume darstellen, langsam und knarrend über Siegfrieds Leichnam senken; weitere dieser massigen Hölzer schichten die Mannen als starke Scheite zuhauf.

Diese atemberaubenden Bilder untermalt das Orchester der Tiroler Festspiele Erl unter der Leitung von Erik Nielsen an diesem letzten Abend sehr stimmungsvoll; da es sich eben hinter der Bühne befindet, hätte es manchmal dynamisch etwas zulegen dürfen, denn alle Solisten und der Chor sind stimmstark genug.

„Weißt du, wie das wird?“, fragt man sich als Zuschauer, auf das dräuende Ende spähend, das zwar jeder kennt, aber das in der Interpretation doch immer wieder Überraschungen birgt. Hier erwürgt der mittellos gewordene Alberich am Ende seinen Sohn Hagen und küßt ihn dann liebevoll auf die Stirn. Gilt Brünnhildes „alles ward mir nun frei“ auch für ihn, da der Gierige sich von allem, dem Ring, seinem bloßen Werkzeug-Sohn und seinem Drang nach Macht befreit weiß? Wagner würde dem zustimmen, denn „das edelste Geschöpf leidet dasselbe wie das Unedle, der Wille ist in jedem Geschöpf eins“ – so schreibt er über den Zwerg, der eben auch der Erlösung bedürftig und, so bleibt die Hoffnung, fähig ist.

© Xiomara Bender

Das Finale der Endzeitoper wird in der Rezeption gerne als „ambivalent“ oder „offen“ beschrieben, aber die Musik offenbart das, was Brünnhilde gegenüber Waltraute bekennt: „die Liebe ließe ich nie“. In einer früheren Fassung, von der sich Wagner wünschte, sie werde den Textbüchern beigegeben, singt das Wotanskind als letzte Zeilen: „selig in Lust und Leid läßt – die Liebe nur sein“. Das hören diejenigen, die ihr Inneres dem großen Vermächtnis zu öffnen vermögen. Liebe ist das Gegenteil von Macht und Gier und so schließt sich der gewaltige Entwurf Wagners von Welt und Walten, von Suchen und Sehnen, vom Trachten nach Macht und der Erlösung in der Auflösung allen Wollens durch die ewige Liebe.

— Ein Gedankenstrich müßte hier stehen, so lang wie Wotans Speer… —

Tosender, nicht enden wollender, schließlich im Stehen dargebrachter Beifall brandet auf, für alle Solistinnen und Solisten, Chor, Dirigenten und Orchester – und für eine Regisseurin, die sich trotz aller Bescheidenheit hier ein weiteres Denkmal gesetzt hat.

Andreas Ströbl, 11. Juli 2024


Götterdämmerung
Richard Wagner

Tiroler Festspiele Erl

10. Juli 2024

Inszenierung: Brigitte Fassbaender
Musikalische Leitung: Erik Nielsen
Orchester und Chor der Tiroler Festspiele Erl