Nürnberg: „Talestri, Königin der Amazonen“, Maria Antonia Walpurgis

Fantastisch: Da steht eine Frau in der Hauptrolle auf der Bühne, die die Oper selbst inszeniert hat – und sie macht es so bravourös, lippensynchron und einsatzbereit, dass wir geradezu körperliche erfahren, dass es der Frau ernst war, als sie das Stück inszenierte (und dass sie das sog. Handwerk so beherrschte wie einst Patrice Chéreau, als er in einer legendären, leider nicht auf Film festgehaltenen Bayreuther Siegfried-Aufführung als junger Siegfried furchtlos einsprang). Ebenso fantastisch: die Sängerin, die den Mut hatte, am Vortag die Noten in Empfang zu nehmen, um für die erkrankte Hauptrollen-Interpretin einen Part zu gestalten, der das Gegenteil von Repertoire ist – und vokal gewiss nicht einfache Gesangskünste verlangt.

© Bettina Stöß

Es passte also alles an diesem Abend der Superlative – nicht zuletzt dort, wo Ilaria Lanzino und Melanie Hirsch mit voller Frauenpower die Vorstellung retteten. Es passte deshalb, weil schon das Werk selbst sich um Frauen dreht und die Männer – höchst ungewöhnlich für eine neapolitanische Oper des mittleren 18. Jahrhunderts – zwar keine Nebenrollen spielen, aber im Frauenbund seltsam unwichtig wirken, weil‘s in erster Linie um die Interessen, Gefühle und Motive eines Frauenbundes und ihrer sehr individuellen Vertreterinnen geht. Kommt hinzu, dass Talestri von einer Frau komponiert wurde: Maria Antonia Walpurgis war von höchstem fürstlichem Geblüt, Tochter eines Wittelsbacher-Kurfürsten und späteren Kaisers (Karl VII.), die in Nymphenburg geboren wurde und in Dresden als Künstlerin und Politikerin Karriere machte. Dass sie sich für die mythische Geschichte einer Amazonenkönigin interessierte ist weniger ungewöhnlich als die Tatsache, dass sie selbst das Libretto schrieb und die Protagonistin im Kampf zwischen Pflicht und Neigung – einem typischen Thema der barocken Oper – am Ende die Königin Königin und zugleich erfolgreich Liebende sein lässt. Die Inszenierung aber lässt keinen Zweifel daran, dass das lieto fine, wie es sich die Fürstin erdachte, heute nicht mehr umstandslos zu machen ist. Happy end war früher, heute ist Verstörung, Geschlechterkampf, ja: Femizid eher die Regel als ein geglücktes Finale. Ilaria Lanzino ist eine Spezialistin in Sachen Beziehungskrieg; mit ihren Nürnberger Inszenierungen des ingeniösen Doppelabends Pimpinone und Herzog Blaubarts Burg, dann mit dem Liebestrank, sogar mit der Kinderoper Rusalka, hat sie immer wieder die Verletzungen, letzten Endes die Unmöglichkeit thematisiert, dass Mann und Frau zusammen auskommen können. Es war insofern konsequent, dass sie auch die Amazonenoper auf die Bühne brachte, in der es, wie in ihrer Lesart des Pimpinone und des Blaubart, um ein Emanzipationsprojekt geht. So steht am Beginn des Abends ein Stöhnen und Schreien, akustische Merkmale einer Vergewaltigung, die in einem der „Helden“ des Stücks, dem ins Amazonenreich eindringenden und die Königin liebenden Oronte, zum Sohn wurde; der wurde gezeugt von der Priesterin Tomiri, die am Ende des ersten Teils sich zur Mutterschaft bekennt – und kraft ihres Amts verpflichtet wäre, den Sohn selbst auf dem Altar des Frauenstolzes und der Frauenunabhängigkeit zu opfern. Natürlich geht bei Maria Antonia Walpurgis alles gut aus, und ebenso gehorcht die Liebe eines Compagnons des Oronte, Learco, zur schönen Antiope, die sich zunächst weigert, seinen Liebesklagen ein Ohr zu leihen, der Konvention. Doch bleibt es erstaunlich, dass die Opernliebe hier nicht der politischen Räson zum Opfer fällt, dass Frauen an den höfischen Herd gehören. Maria Antonia Walpurgis hat ihr Selbstbewusstsein sehr deutlich in ihrem Stück gespiegelt, das finalmente die Liebe beider Paare mit der macht versöhnt, indem zugleich beides möglich ist – oder sein sollte.

© Bettina Stöß

Eben in diesem „sollte“ liegt der Haken. Lanzino hat einen skeptischen, wenn auch nicht einäugigen Blick aufs Ganze der erkämpften Partnerschaften. Dem Corps der von Valenta Rocamora i Torà choreographierten Frauen entspricht ein Corps von maskierten Männern – maskiert wie der rotbehandschuhte Mann, der wie ein Gespenst durch das Leben der Vergewaltigten wandelt. Der Schmerz wird auf der von Emine Güner entworfenen Bühne zwar in wohlausgezirkelten Bildern und Tanzschritten ästhetisiert, aber nicht banalisiert. Zentrales Element der Ausstattung sind die vielen Paare roter Schuhe, eine Erinnerung an Elina Chauvets Installation Zapatos rojos, mit der sie 2009 an die Tatsache erinnerte, dass die Gewalt, die Männer gegen Frauen anwenden (Stichwort: Femizid, auf deutsch: Mord an Frauen) erschreckend mächtig ist. Im Licht aktueller bundesdeutscher Berichte hat die Problematik leider nichts von ihrer Aktualität verloren; kein Wunder also, dass sich die Frauen der Oper in einen Schutzraum zurückziehen, in dem ein Mann, und sei ernoch so gefühlvoll wie in dieser Oper, nur als gefährlicher Störenfried empfunden werden kann – bevor denn doch die Gefühle das Konstrukt, also den Bühnenbau, buchstäblich, auseinanderreißen. Es kann nicht anders sein.

Maria Antonia Walpurgis von Bayern, Kurfürstin von Sachsen, hat 1760 mit der Talestri eine Oper vorgelegt, die viel von Hasse und Porpora hat, in den Koloraturen ein wenig sparsamer angelegt ist (was dem Stoff nicht schadet, sondern eher nutzt), die Abfolge von Rezitativ und Arie und sehr gelegentlichem Duett streng einhält – und es librettistisch mit den Großmeistern der Epoche, Metastasio und Zeno, locker aufnehmen kann. Man wäre schon sehr ignorant und gönnerhaft, würde man im Stil einer älteren Betrachtungsweise behaupten, dass das Textbuch nicht besser und nicht schlechter sei als das der Tausenden von anderen Seria-Opern. Dies zu unterstellen bedeutete, die Texte der Librettisten per se als sinnlos zu klassifizieren, was der Dignität und dem teilweise hohen Rang der Poesie nun gar nicht entspricht. Tatsächlich ist das Buch zur Talestri sehr gut: in seiner wohl abgewogenen, stellenweise stark psychologisierenden Charakterzeichnung und dem gesamten dramatischen Aufriss. Freilich muss man feststellen, dass die Oper, zumal in den Rezitativen, stark gekürzt wurde und die deutsche, von Babette Hesse erstellte Fassung der Secco- und Accompagnato-Teile so simpel wie eingängig wirkt. Die vor 260 Jahren geschriebene Geschichte interessiert einen – Besseres ist angesichts der körperbetonten wie ästhetischen Inszenierung kaum zu sagen.

© Bettina Stöß

Sie interessiert einen schon deshalb, weil die Komponistin sowohl im lyrischen als auch furiosen Bereich, bei den Gleichnisarien wie den sensuellen Nummern, schöne kurzweilige Musik schrieb. In Nürnberg steht zum wiederholten Mal Wolfgang Katschner am Pult, der mit einer Mischung aus Spezialisten aus dem Bereich des 18. Jahrhunderts und den Mitgliedern der Staatsphilharmonie Nürnberg, die auf modernen Instrumenten spielen, einen Klang hervorbringt, der dak spezifischer Spielarten „historisch informiert“ ist, wie die Zauberformel inzwischen lautet. Weniger schroff als Harnoncourt in seinen schroffsten, weniger rasant als Reinhard Goebel in seinen rasantesten Zeiten, bringt das Ensemble mit seinen zwei Cembali (jeweils für andere Sänger, was klanglich raffiniert ist) und der modernen Flöte, den Lauten und der neueren Oboe, einen Klang zusammen, der sich ins Ohr schmeichelt und ryhthmisch in die Füße fährt (merke: Barock rockt). Melanie Hirsch steht nicht neben der Bühne, sondern vor dem rechten Cembalo im Orchestergraben; sie singt die Titelpartie mit einer Verve und einer Sicherheit, als hätte sie sie schon oft gesungen: Brava! Eleonore Marguerre wird, als Tomiri, am Abend als indisponiert angekündigt, man hört es kaum, ihr Timbre ist auch am 22. Dezember 2022 vortrefflich. Die Dritte im Kampf- und Liebesbund ist Corinna Scheurle, die in ihren großen, sensitiven wie bewegten Antiope-Arien ein harmonisch ausgewogenes Kehlenkonzert ins Haus schicken kann. Die Männer – Ray Chenez als Oronte, der, als Counter, so singt wie die, den er zwischenzeitlich darstellt: die Dame Orizia, und Sergej Nikolaev als Learco – haben ihre gelungenen Auftritte, wobei Chenez zweifellos, nicht allein durch seine Präsenz, den ersten Part innehat. Dass die Rolle ein Counter macht ist neu, denn 1763 wurde sie von einem „normalen“ Tenor gesungen. Die Umpolung auf eine hohe Stimme bringt natürlich einen Bedeutungswandel mit sich: der  zwischen den Fronten stehende Liebende wirkt plötzlich fragiler als ursprünglich vorgesehen – und auch dies passt zum Blick, den die Regisseurin auf ihre Figuren hat. Bleibt das wichtige Tanzensemble, das aus dem Quintett eine szenisch aufwendigere Parabel über die Frauengruppe macht, die es schließlich mit einer Männermacht zu tun hat, die hinter den beiden einzigen männlichen Sängern steht und immer brutaler gegen die Frauen agiert, die inzwischen ihren leicht punkigen Amazonen-Look gegen die weiblichen Körperformen betonende weiße Untergewänder eingetauscht haben. Mann könnte das auch als Selbstaufgabe interpretieren, die, ihren hohen Preis hat.

Brutal – aber sublimiert in einer Bildsprache, die mit der Schönheit der Musik konform geht, ohne das Problem des Frauenmords zu verkleinern. Wenn am Ende die Akteurinnen und Akteure dem Publikum jeweils ein rotes Schuhpaar buchstäblich vor die Nase halten, hat‘s etwas von pädagogischem Holzhammer – und den Beigeschmack einer Wahrheit, die in der Talestri-Inszenierung hochästhetisch thematisiert wurde.

Starker Beifall für einen in Sachen Stück und Aufführende ungewöhlichen Abend.

Frank Piontek, 22. Dezember 2022


Maria Antonia Walpurgis: „Talestri, Königin der Amazonen“

Nürnberg / Staatstheater

21. Dezember 2022

Inszenierung: Ilaria Lanzino

Dirigat: Wolfgang Katschner

Staatsphilharmonie Nürnberg