Antwerpen: „Der König Kandaules“

Alexander Zemlinsky

Aufführung am 3. April

Das selten gespielte, sinnliche „Opus summum“ – in Antwerpen mal ohne Schleier

Die Oper in Antwerpen – bis 1981 „Koninklijke Vlaamse Opera“ – kann auf eine lange Operntradition zurückblicken. Eine der Eigenheiten des Hauses war, dass Jahrzehnte lang am Karfreitag „Parsifal“ gespielt wurde. In den Wirren der Reorganisation der belgischen Kulturinstitutionen, fusionierte das Haus 1981 mit der Oper in Gent zu einer „flämischen Oper“, der „Vlaamse Opera“. Nachdem Gerard Mortier 1987 das Handtuch schmiss, wurde Marc Clémeur ernannt, der dem Haus von 1989 bis 2008 ein eigenes Profil zu geben wusste. Zu seinen Glanztaten zählt ein sehr erfolgreicher Puccini- und Janacek-Zyklus mit dem Regisseur Robert Carsen, der an mehreren europäischen Opernhäusern immer noch nachgespielt wird. Danach wechselte Clémeur an die Opéra du Rhin, auch mit mehreren Häusern (Strabburg, Colmar und Mulhouse), über die regelmäßig im Merker berichtet wird. Clémeurs Nachfolger in Antwerpen, der Schweizer Aviel Cahn, versucht nun der Vlaamse Opera ein betont modernes Profil zu geben. Cahn, ursprünglich ein Sänger, leitete eine Künstleragentur, bevor er 2004 in Bern der jüngste Opernintendant Europas wurde: kaum 30 Jahre alt. Sein erklärtes Ziel bei seinem Amtsantritt in Antwerpen/Gent waren: „junge Dirigenten und Regisseure, ein breiteres Publikum als die Mozart-Verdi-Wagner-Freunde, spezielle Werke und eine häufigere Medienpräsenz“. Das ist ihm auch geglückt, u.a. mit den sehr modernen Inszenierungen von „Parsifal“ (2013) und „Tannhäuser“ (2015).

Zu Ostern gab es dieses Jahr nicht „Parsifal“ aber dafür eine sehr selten gespielte Oper: „Der König Kandaules“ von Alexander von Zemlinsky (1872-1942). Man braucht den Wiener Komponisten im Merker nicht mehr vor zu stellen, aber man kann wohl betonen, wie bekannt er zu Lebzeiten war – und wie sehr er seitdem vergessen wurde. Gustav Mahler dirigierte 1900 an der damaligen Wiener „Hofoper“ persönlich Zemlinskys erste Oper „Es war einmal“, Brahms sorgte für den Verleger und Arnold Schönberg heiratete Zemlinskys Schwester Mathilde. Von den acht Opern Zemlinskys haben sich nur zwei im Repertoire halten können: „Die Florentinische Tragödie“ (1917) und „Der Zwerg“ (1922). Von den Nazis als „entartet“ verpönt, musste Zemlinsky nach dem „Anschluss“ mit seinem Schwager in die USA emigrieren, und seine letzte Oper – eigentlich sein „Opus summum“ – blieb unvollendet. Das 1936 komponierte Werk sollte in New York aufgeführt werden, doch die „Nacktszene“ im zweiten Akt war angeblich ein unüberwindbares Hindernis, und Zemlinsky war auch unzufrieden mit dem 1. Akt, den er mehrere Male umarbeitete. So „werkelte“ er bis zu seinem Tod an der großen Oper, die erst 1992 durch Antony Beaumont „rekonstruiert“ und zuende orchestriert wurde. Nach der Uraufführung 1996 an der Staatsoper in Hamburg folgte schon 1997 die Erstaufführung in Wien (an der Volksoper). Der Merker Dominik Troger schrieb damals dazu: „Das Werk ist an für sich etwas „schwül“ und sehr psychoanalytisch. Die Musik phasenweise sehr spannend, und dann denkt man für Minuten wieder an etwas ganz anderes. (…) Es gibt eine Art von Musik und Sujets aus dieser Zeit, die heute eigentlich nicht mehr zu begeistern vermögen. (…) Zemlinski ist zwar ein wichtiges Bindeglied zur sogenannten Moderne hin. Aber Bindeglieder haben es so an sich, in der Mitte zu stehen, und das, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt leisten, ist wenige Jahre später von denen längst überholt, die sich an diesem Bindeglied in eine neue Zukunft geschwungen haben. (…) Fazit: Der „König Kandaules“ gehört zu den „Exotica“ der Opernliteratur, wie eine Mangofrucht oder dergleichen. Man muss sie nicht jeden Tag haben, aber hin und wieder tut so ein Sinneskitzel ganz gut“.

18 Jahre, neun Produktionen und zwei CD-Einspielungen später beschreibt der Merker Peter Seiferth im September 2015 in Augsburg auch die „Längen“ und „Schwächen“ des Werkes, das mit einer Spieldauer von drei Stunden „eindeutig zu lang ist“. Doch die Augsburger Inszenierung rettete alles: „Sie hat in verblüffender Weise einen anfangs amüsanten und kurzweiligen Abend aus diesem Material gemacht, indem es ihr gelang, es als Vorlage für eine Groteske zu nutzen, die es eben auch sein kann (…). Trotzdem gelingt der Aufführung die Kurve in den Ernst der Geschichte – im zweiten Teil beginnt eine wirklich spannende Auseinandersetzung, die bis zum Schluss anhält.“ In Antwerpen versucht der ukrainische Regisseur Andrij Zholdak aus dem Werk keine Groteske sondern eine Tragödie zu machen. Dabei verweist er mit viel Blut, Gewalt, Folterungen und selbst abgeschlagenen Köpfen auf den Krieg in seiner Heimat. Ähnlich wie in Augsburg löst er sich völlig von dem ursprünglichen Libretto und inszeniert eine eigene Geschichte: „die Rückseite, die Kehrseite der Medaille, die verborgenen Gefühle“. Das kinderlose Königspaar bekommt in dieser Inszenierung zwei Söhne, die beinahe in allen Szenen auftauchen und zu Pagen, Mädchen und riesigen Fischen oder Ratten mutieren und noch vieles anderes tun, was wir nicht so ganz verstehen. Damit verliert die bildschöne Königin Nyssia als Mutter ihren Status als jungendliche „femme fatale“ in die sich alle verlieben und der dramaturgisch so wichtige Kontrast zwischen dem mächtigen aber impotenten König und dem armen aber zeugungsfähigen Fischer Gyges verschwindet. Am Ende der Oper ermordet Gyges auf Befehl der Königin den schwachen König und wird danach selbst König an ihrer Seite. Doch in dieser Inszenierung bringt die blutrünstige Nyssia am Ende alle mit einem Messer um. Aus dem antiken Liebesdrama von Herodot, aus der psychologisch interessanten Dreiecksgeschichte, die viele Künstler und Schriftsteller fasziniert hat, macht der Regisseur eine Anklage gegen Gewalt und Krieg. Drei Stunden lang werden Menschen geschlagen, erdrosselt und gefoltert, ohne dass uns deutlich wurde, was das nun in dieser Oper zu tun hat.

Die Sänger waren deutlich überfordert und der russische Tenor Dmitry Golovnin überzeugte leider nicht als König Kandaules. Die Schwedin Elisabet Strid wurde gelobt als Tannhäuser-Elisabeth in Oslo (2010) und als Freia in Bayreuth (2013), doch in der Rolle der Königin Nyssia stieß sie in den Höhen hörbar an ihre Grenzen. Der in Israel geborene, in Süd-Afrika aufgewachsene und offensichtlich in Deutschland lebende Gidon Saks hat den Fischer Gyges wahrscheinlich schon einmal gesungen (offiziell war es für alle 13 Sänger ein Rollendebüt). Wenn nicht, dann kann man ihm nur doppelt zu seiner imponierenden Rollengestaltung gratulieren! Er beherrschte mit seinem sonoren, sehr gut geführten Bass-Bariton und seiner perfekten Diktion szenisch und musikalisch die ganze Bühne und schaffte es als einziger Darsteller in dieser chaotischen Inszenierung glaubwürdig zu bleiben. Die Ausstatter brauchen wir nicht zu erwähnen. Das „Symfonisch Orkest“ der Oper trat offenbar in einer kleinen Besetzung an und klang deswegen etwas schmal. Aber es wurde durch den Chefdirigenten Dmitri Jurowski gut und klar über die vielen Klippen dieser interessanten Partitur geführt.

Fazit: Warum immer „Parsifal“ am Karfreitag? Es war sicher eine gute Idee, um an Ostern auch einmal Zemlinsky zu spielen! Nur was bleibt von diesem Werk noch übrig, wenn man es so völlig loslöst von dem Zeitgeist in dem es entstand? Ich erkannte weder die Verweise auf Alma Mahler-Schindler – die viele von Zemlinksys starken Frauenfiguren beeinflusste – noch auf einige anderen „femmes fatales“ der Wiener Sezession und der Opern von Richard Strauss. Ohne diesen Kontext, ohne Schwüle und Sinnlichkeit bleibt vom sagenhaften Charme der Königin Nyssia nichts mehr übrig. Sie warnt selbst davor in einer ihrer schönsten Arien: „Ich bin wie das Glück: das Glück verwelkt, wird es entschleiert“.

Waldemar Kamer 7.4.16

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)