Luxemburg: „Cabaret“

23.12.2019 im Grand Théâtre de Luxembourg

Willkommen, Bienvenue, Welcome!

Keine Spielzeit des Grand Théâtre de Luxembourg ist komplett ohne ein großes Finale zum Jahresende. Das Berlin der dreißiger Jahre ist Hintergrund der Story, Nazi-Terror und jüdisches Elend kündigen sich an. Der Amerikaner Cliff Bradshaw mietet sich bei Fräulein Schneider ein, wo er auch die wenig erfolgreiche Tänzerin Sally Bowels kennenlernt. Ein Happy-End gibt es angesichts der schlechten Zeiten nicht.

Bill Kenwright präsentiert Rufus Norris‘ mehrfach preisgekrönte Produktion von Kander und Ebbs bahnbrechendem Musical Cabaret, das nach einer ausgedehnten UK-Tournee 2019 in Luxembourg angekommen ist, von wo es 2020 zum Palace Theatre Manchester weiterzieht.

Die Hauptrolle des rätselhaften Conférencier spielt John Partridge, einer der produktivsten und führenden Männer des West End Theaters (A Chorus Line, Chicago und La Cage Aux Folles). Partridge ist sowohl stimmlich, tänzerisch als auch darstellerisch eine perfekte Besetzung. Große persönliche und stimmliche Ausstrahlung besitzt die Darstellerin der Sally Bowles, Kara Lily Hayworth, die erst vor kurzem für diese Partie entdeckt wurde.

Zwei ausdrucksstarke Songs hat Fräulein Schneider, Anita Harris. Anita Harris wurde in den 1960er Jahren als Sängerin bekannt und begann eine Karriere als Darstellerin und Schauspielerin. Ebenfalls wichtig mit ein bzw. zwei Songs sind Cliff und Schultz. Auf höchstem tänzerischem und sängerischem Niveau auch der Rest des Ensembles, so dass die Aufführung künstlerisch der höchste Genuss ist.

Cabaret bietet großartige Choreographien, schillernde Kostüme und Lieder, die inzwischen Kultstatus haben, darunter Money Makes the World Go Round, Maybe This Time und Cabaret. Die Bilder wechseln schnell und fließend zwischen dem Kabarett und den anderen Schauplätzen.

Aus Berliner Geschichten von Christopher Isherwood hat der Dramatiker John von Druten das Stück I am a Camera gemacht, das dem Musical Cabaret zugrund liegt.

Die Broadway-Uraufführung 1966 war eine hochgelobte Leistung des Regisseurs Harold Prince. Den waren Glanz jedoch strahlte die Verfilmung (1972) aus, bei welcher insgesamt acht „Oscars“, darunter Liza Minelli jenen für die beste weibliche Hauptrolle.

Die Musik zu Cabaret ist geschrieben und arrangiert ganz im Stil der späten 1920er Jahre, mit Ausnahme einiger lyrischer Nummern wie Cliffs Why Should I Wake Up. Sopransaxophone und der Sound der Kit-Kat-Club-Band dominieren in der Instrumentation. Viele der Musiknummern werden im Cabaret-Stil an der Rampe gespielt. Die Originalproduktion zielte auf eine Steigerung der Cabaret-Atmosphäre ins Groteske. Nach der Verfilmung des Stoffes – mit wesentlich geänderter Story – sind die für den Film neugeschriebenen Songs Mein Herr, Maybe This Time und Money-Money für die Verwendung in Theaterproduktionen freigegeben worden. Insgesamt wurde inhaltlich der berühmten Filmfassung angeglichen und Cliffords Bisexualität – 1966 auf der Bühne noch nicht vorstellbar – deutlicher gezeichnet.

Hier wird etwas auf die Musicalbühne gebracht, was dort bisher nicht zu finden war: die teils blutige, teils humorvolle, teils makabre Auseinandersetzung mit Toleranz und Intoleranz als Auslöser für Verfolgung, Verbrechen und Krieg, in einer neuartigen Form von erotisch-dekadenter Freizügigkeit.

Durch die verzweifelt grelle Buntheit der Eröffnungsnummer, die die zum Bestandteil der Show gewordenen Besucher mit der geschickt eingefangenen gequälten, selbstzerstörerischen Grundstimmung im Berlin der Endzeit begrüßt, und durch die bizarren Nummern und Tänze der Kabarettnummern erleben wir kein literarisches Musical im herkömmlichen Sinne, sondern eine politische Show, bei der der Zuschauer Teil der Aufführung wird. Jedes Nurbeobachten ist unmöglich; wenn Du nicht dagegen bist, bist du dafür (Cliff).

Das Publikum des Luxembourger Theaters scheinen es gewohnt zu sein, dass das Spektakel zum Jahresabschluss für die ganze Familie geeignet ist. Nur so ist es erklärbar, dass so viele Familien mit Kindern – teilweise ca. 5 Jahre alt – gekommen sind. Der Veranstalter weist das Stück als geeignet für Personen ab 14 Jahren aus und gibt den Hinweis: Enthält Nacktheit.

Ingo Hamacher, 26.12.2019

Bilder (c) Grand Théatre

Für alle, die es nicht kennen, hier der Inhalt an der Inszenierung orientiert:

Berlin, Jahreswechsel 1929/30.

I. Akt.

Willkommen, Bienveneu, Welcome. Ein fröhlich grimmassierender, spöttisch-sympathischer Conférencier eröffnet die Show im Kit-Kat-Club. Er präsentiert die Kit-Kat-Club-Boys&Girls und die Band. Der Amerikaner Cliff Bradshaw, der für Recherchen zu einem zeitgeschichtlichen Roman nach Berlin fährt und dort das Ende der Weimarer Republik und die Anfänge des Nationalsozialismus erleben wird, lernt im Zug einen politisch engagierten Deutschen, Ernst Ludwig, kennen. An der Grenze gelingt es Ludwig, seinen Handkoffer zwischen das bereits kontrollierte Gepäck von Cliff zu platzieren, und damit der Grenzkontrolle zu entziehen. Er gesteht Cliff seinen Schmuggel und vermittelt ihm als Dank für seine Hilfe die Adresse der Berliner Privatpension von Fräulein Schneider.

Im Kit-Kat-Club, dessen Conférencier frech und grotesk durch ein die politische Situation der Zeit reflektierendes Programm führt, lernt er die englische Sängerin Sally Bowles kennen. Cliff erteilt Ernst Ludwig Englisch-Unterricht. Unerwartet erscheint Sally: Ihr Freund und Chef Max hat sie soeben rausgeschmissen, weil sie Cliff im Kit-Kat-Club zu viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Fräulein Schneider, die die häufigen Männerbesuche ihres Pensionsgastes Frau Kost heftig tadelt, duldet dies Verhältnis, da sie sich selbst in den jüdischen Obsthändler Schultz verliebt hat. Diese Woche hat er ihr zu ihrer größten Freude sogar eine Ananas gebracht. Sally eröffnet Cliff, dass sie ein Baby von ihm erwartet. Weil er Geld braucht, nimmt Cliff einen von Ludwig angebotenen Job an: Devisenschmuggel. Als das wegen ihrer Männerbesuche gerügte Fräulein Kost Herrn Schulz beim Verlassen des Zimmers von Fräulein Schneider ertappt, kündig dieser zur Überraschung beider Frauen an, dass er Fräulein Schneider zu heiraten gedenke. Zu der folgenden turbulenten Verlobungsparty erscheint auch Ernst Ludwig, der vorher noch auf einer Versammlung war. Als er seinen Mantel ablegt, wird an seinem Arm die Hakenkreuz-Binde sichtbar. Cliff erkennt, wen er mit seiner geleisteten Schmuggelarbeit unterstützt hat, und weigert sich, seinen ausgemachten Lohn von Ludwig anzunehmen. Sally, die sich nicht für Politik interessiert, steckt das Geld jedoch ein. Als Ernst Ludwig zufällig erfährt, dass der zukünftige Bräutigam, Herr Schulz, Jude ist, verlässt er umgehend die Party.

II. Akt.

Die Kit-Kat-Club-Band und -Boys&Girls geben eine große Tanznummer, die mit einer Fanfare beginnt und in einem Stechschritt-Marsch endet. Im Laden von Schultz gesteht Fräulein Schneider, dass die Nazis sie sehr beunruhigen. Schultz bemüht sich, ihr über die Ängste hinwegzuhelfen, und bittet, die Verlobung nicht deshalb zu lösen, weil er Jude ist. Doch eingeschlagene Scheiben im Hintergrund berichten schon davon, dass für Juden in Deutschland zukünftig kein Platz mehr sein wird. In einer faszinierend und abstoßend zugleich wirkenden Präsentation stellt der Conférencier sein Mädchen vor: Einen Gorilla (If You Could See Her Through My Eyes). Fräulein Schneider bringt Sally und Cliff das Verlobungsgeschenk zurück – die Verlobung ist aufgelöst, sie wagt es nicht, einen Juden zu heiraten. Cliff ist entsetzt und drängt Sally, Berlin zu verlassen und mit ihm nach Amerika zu gehen. Doch Sally träumt von einer großen Karriere; sie will beim Cabaret bleiben. Cliff gibt nicht auf und folgt ihr in den Kit-Kat-Club. Dort wird er nach einer Auseinandersetzung mit Sally und Ernst Ludwig von dessen Nazi-Freunden zusammen geschlagen. in ihrer großen Nummer breitet Sally ihre Lebensphilosophie aus: Das Leben ist ein Cabaret!

Cliff, der seine Habseligkeiten gepackt hat, fällt an der zurückgekommenen Sally auf, dass sie ohne Pelzmantel gekommen ist. Sie gesteht, ihn verkauft zu haben, um beseitigen zu lassen, was ihrer Karriere im Wege stand: das Kind. Cliffs Antwort ist eine Ohrfeige. Er legt ihr eine Zugkarte auf den Tisch und geht. Wenn Cliff in das Abteil seines Zuges steigt, der ihn aus Berlin fortbringen soll, sehen wir im Hintergrund der Bühne die Tänzer und Tänzerinnen des Kit-Kat-Clubs nackt mit hochgereckten Armen an der Bühnenrückwand stehen. Auch der Conférencier legt seine Kleider ab und geht zu den anderen Nackten. Von oben senkt sich Sprühnebel herab. Wir blicken in die Gaskammern der Vernichtungslager. Eine Welt verlischt – das Publikum bleibt verstört zurück. – Tosender Applaus.

Weitere Termine:

26.10.; 27.12.; 28.12.; 29.12.; 30.12.; 31.12.19; 02.01.20; 03.01.; 04.01. 15:00 & 20:00; 05.01.

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