Aufführung am 20.6.2019
Zum 200. Geburtstag eine wiederentdeckte französische „Zuckerbäckertorte“
Was für eine tolle Geburtstagsparty! Offenbach hätte sich gefreut über den Trubel (und die sehr seriösen Symposien) in seiner Geburtsstadt Köln und seiner Wahlheimat Paris. Und auch er wäre wahrscheinlich wie der Offenbachspezialist Heiko Schon (siehe das Interview mit Renate Wagner im Merker Online) nach Paris gefahren, denn die Premiere dort war sehr besonders und als Geburtstagsgeschenk wunderbar ausgesucht. Die Opéra Comique bringt in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane Offenbachs letzten großen Erfolg in Paris, „Madame Favart“, eine opéra comique, von der wir noch nie gehört hatten. Am 28 Dezember 1878 in den Folies Dramatiques uraufgeführt, verschwand das Werk gänzlich von den Spielplänen mit dem (posthumen) Erfolg von „Hoffmanns Erzählungen“ und wurde noch nie an diesem Haus gespielt. Doch hier gehört sie absolut hin, nicht nur wegen ihrer Form, sondern auch wegen ihres Sujets, denn sie endet mit der Gründung der heutigen Opéra Comique durch den Theaterautor und Opernkomponisten Charles Simon Favart (1710-1790), weswegen der Saal an der Rue Favart bis heute „Salle Favart“ heißt.
Charles Simon war verheiratet mit der legendären Schauspielerin Justine Favart (1727-1772), die die europäische Theatergeschichte beeinflusst hat – man braucht nur zu lesen, was Voltaire oder Grimm über sie geschrieben haben. Denn sie war einer der Allerersten in einer Zeit, wo Schauspielerinnen selbst ihre oft sehr kostbaren und durch Gönner bezahlten Kostüme mitbringen mussten, diese eintauschte für eine oft sehr einfache Kleidung, die jedoch ihren Rollen entsprach. So sorgte sie für eine Sensation, als sie in „Bastien et Bastienne“ als einfache Landfrau mit Holzschuhen auf der Bühne erschien. Ein Stück bekannt durch die spätere Vertonung Mozarts, das übrigens sie und nicht ihr Mann geschrieben hat, so wie es fälschlicherweise beinahe überall noch erwähnt wird. Denn Justine Favart war auch Dichterin, Schriftstellerin und Komponistin, zusammen mit ihrem 17 Jahre älteren Mann, dem sie durch dick und dünn, privat und künstlerisch, immer die Treue hielt und der nach ihrem frühen Tod Wunderbares über sie geschrieben hat, um zu erklären, dass er ohne sie einfach nichts mehr schreiben konnte. So eine schöne und intelligente Schauspielerin hatte es im Paris von Louis XV und Madame de Pompadour natürlich nicht einfach, da alle großen Herren ihr nachstellten. Der bekannteste war Moritz von Sachsen (1669-1750), der erfolgreiche französische Feldmarschall im Österreichischen Erbfolgekrieg. Der „Maréchal de Saxe“ beorderte Charles Simon Favart mit seiner Frau an die Front, um für seine Soldaten zu spielen und engagierte sie auch – was viel weniger bekannt ist – als Doppelspionen, die seinen Gegnern am Tag vor der Schlacht gefälschte Informationen verkauften. Was dort alles genau passiert ist, konnte nie rekonstruiert werden, aber Tatsache ist, dass Justine und ihr Mann von der Front flüchten mussten und jahrelang untertauchen, um der Wut des Feldmarschalls zu entfliehen, dessen Avancen sie verweigert hätte. Justine wurden mehrere Male verhaftet, in verschiedenen Klöstern eingesperrt, aus denen sie jedoch auf abenteuerliche Weise entfliehen konnte. Denn sie war eine Meisterin im Verkleiden, sprach mehrere Sprachen und wusste in Verhören deutsche und französische Polizeichefs in die Irre zu führen.
Sie war ein „goldenes Sujet“ (wie man in Theaterkreisen sagt) für Offenbach, der nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 in Paris wieder Fuß fassen wollte als französischer Komponist. Frankreich besann sich nach seiner schmachvollen Niederlage auf seine großen Feldherren der Vergangenheit und George Sand hatte für viel Aufregung gesorgt, mit der in ihren Memoiren publizierten Behauptung, dass sie eine illegitime Urenkelin des Maréchal de Saxe und der Schauspielerin Marie Rinteau sei (was übrigens nachweislich nicht stimmt, auch wenn man es heute noch auf Wikipedia etc lesen kann). Es wimmelte damals an Stücken über die Liebschaften des Feldmarschalls, so wie die später durch Cilea vertonte „Adrienne Lecouvreur“ von Scribe, und an der Comédie Française wurde ein Stück aufgeführt über seine abenteuerliche Beziehung mit Justine Favart. Offenbach schrieb danach mit seinen Librettisten Alfred Duru und Henri Chivot eine ebenso abenteuerliche Handlung, die anfängt in einer Herberge in Arras, in der Charles Simon Favart sich in einem Keller versteckt hat und seine Frau in Verkleidung erscheint um ihn zu befreien. Doch bis es dazu kommt, muss sie sich noch fünfmal verkleiden und als elegante Dame den Gouverneur bezirzen, damit er ihren dort zufällig getroffenen Jugendfreund Hector zum Polizeikommandanten ernennt, in dessen Haus sie einstweilen vor der nach ihr suchenden Polizei sicher sein kann. Doch dort wird sie als Hausmädchen durch eine alte adelige Tante Hectors aus Paris erkannt als die getarnte Schauspielerin, nach der alle überall suchen, was zu einer abenteuerlichen Flucht führt mit vielen köstlichen Rollenspielen. Bis zum typischen Offenbach-Happy End, bei dem Justine sich flehend vor den König wirft, der den lüsternen Gouverneur Pontsablé (stellvertretend für den Maréchal de Saxe) in den Ruhestand schickt und Charles Simon Favart zum Direktor der Opéra Comique ernennt (was in Wirklichkeit ein bisschen anders verlief).
Um ein solches komische Oper über eine Schauspielerin zu inszenieren, engagierte die Opéra Comique die Schauspielerin Anne Kessler, Sociétaire der Comédie-Française, die nun als Opernregisseurin debütiert. Die Wahl ist gut getroffen, denn die Regisseurin überzeugte mit ihrer sehr fein ausgearbeiteten Personenregie, vor allem in den gesprochenen Dialogen. „Madame Favart“, wurde vollkommen strichlos aufgeführt, was für ein heutiges Publikum nicht immer leicht ist. Denn das bedeutet, dass genauso viel gesprochen wie gesungen wird. Nirgendwo auf der Welt spielt man heute noch die ursprüngliche Fassung von „Carmen“ mit allen gesprochenen Dialogen, weil man dafür Sänger-Schauspieler braucht und eben entsprechend lange Probenzeiten. Anne Kessler brachte das junge Ensemble der Opéra Comique – jetzt „Troupe Favart“ genannt – zu einer erstaunlich homogenen Ensembleleistung, in der jeder, auch der Chor, immer in seiner klar charakterisierten Rolle blieb (auch wenn er/sie nicht sang/en). Der einzige Minuspunkt war das Bühnenbild von Andrew D. Edwards, der die Handlung in das Kostümatelier der Opéra Comique verlegte. Dies ist dramaturgisch nachvollziehbar in dieser Verkleidungskomödie und auch nicht unästhetisch – wir sind in Frankreich und nicht im deutschen „Regie-Theater“ -, aber es brachte keinen Mehrwert und stiftete manchmal etwas Verwirrung. Und gerade in diesem Ambiente waren die Kostüme von Bernadette Villard einfach zu schlicht. Da wäre eine Ästhetik wie in dem hochgelobten „Postillon de Lonjumeau“ (siehe Merker 4/2019) vielleicht angebrachter gewesen. Aber auch mit dieser Optik gelang Kessler die für uns beste Inszenierung des Offenbach-Jahres in Frankreich.
Das Singen war genauso gut wie das Spielen. Marion Lebègue überzeugte als omnipräsente Madame Favart in stets neuer Verkleidung. Der szenische und musikalische Höhepunkt des Abends war ihr Auftritt als alte, intrigante Tante Hectors, Madame de Montgriffon, die als Peggy Guggenheim mit markanter Brille und Schoßhund erschien – wir haben die Sängerin einfach nicht wiedererkannt. Auch stimmlich nicht, denn ihre Arie „Je passe sur mon enfance“ – für uns die schönste des Abends – lag deutlich tiefer als ihre anderen Arien. Damit hatte Juliette Simon-Gérard, die 19-jährige Sängerin der Uraufführung, offensichtlich kein Problem, doch die vielen Registerwechsel – und das viele Sprechen! – brachten Marion Lebègue an der Premiere öfters stimmlich aus dem Lot. Christian Helmer überzeugte alsCharles-Simon Favart in der bekannten Zuckerbäcker-Arie (Favart war wie sein Vater ursprünglich ein Zuckerbäcker gewesen) und trumpfte in den Tiefen mit sonorem Bass, aber dafür weniger in der Höhe. Da hatten es Anne-Catherine Gillet als Suzanne („einstimmig“ Spielsopran) und François Rougier als ihr Ehemann Hector de Boispréau (Spieltenor) viel leichter. Die drei buffonesken alten Männer – offensichtlich ein Thema für den alten Offenbach – beherrschten die Bühne, auch wenn sie vergleichsweise weniger zu singen hatten. Allen voran Eric Huchet, vor drei Wochen ein köstlicher Maître Péronilla (siehe unsere letzte Offenbach-Rezension) und nun ein umwerfend lustiger Marquis de Pontsablé, der als lüsterner Gouverneur und Baron Ochs avant la lettre der armen Justine nachstellt. Ihm ebenbürtig zur Seite Franck Leguérinel als Major Cotignac und Lionel Peintre als Biscotin – beide nicht mehr aus dem Ensemble der Opéra Comique wegzudenken. Der exzellent durch Edward Ananian-Cooper vorbereitete Chœur de l’Opéra de Limoges sang absolut textverständlich, auch in den vielen typischen Offenbach-gallops, die Kaiser Napoleon III zu seinem berühmten Bon Mot inspirierten, dass er Offenbach hauptsächlich „mit den Beinen höre“.
Der von uns schon öfters gelobte Laurent Campellone – er digerierte unlängst die „Belle Hélène“ in Nancy (siehe Merker 1/2019) und die Platte „Offenbach Colorature“ mit der Sängerin Jodie Devos und dem Münchner Rundfunkorchester, die nun beim Palazzetto Bru Zane erscheint – zeigte sich wieder als Offenbach-Spezialist. So einen Dirigenten braucht man auch, denn die Partitur wimmelt von Anspielungen auf die französische opéra comique des 18. Jahrhunderts, vor allem auf den durch Offenbach sehr geschätzten Nicolas Isouard (siehe seine „Cendrillon“ in Saint Etienne im letzten Merker). Doch gleichzeitig lässt Offenbach das kleine Mozart Orchester auch manchmal heftig aufspielen und galoppieren. Das führte damals wie heute zu einem frenetischen Schlussapplaus, den Offenbach kurz vor seinem Tod sehr genossen hat. „Madame Favart“ wurde zu seinen Lebzeiten noch 200 mal in Paris gespielt, auch 1879 im Theater an der Wien (Offenbachs letzter Besuch Wien). Wunderbar, dass dieses vergessene Werk wieder mit Erfolg ausgegraben wird, denn die Opern in Limoges und Caen kündigen schon eine Wiederaufnahme für die nächste Spielzeit an. Was für eine schöne „Torte“ zum 200. Geburtstag!
Waldemar Kamer 22.6.2019
Fotos (c) Stefan Brion
Opernfreund-Plattentipp
Aus den vielen vorliegend Aufnahmen, empfiehlt unser Paris-Kritiker Waldemar Kamer die Radioaufnahme aus 1953 mit der fantastischen Fanély Revoil (1906-1999), jetzt gerade bei der Firma Malibran neu herausgebracht.