Wahnfried, 25.7.2020
oder Der herrliche Auftakt zu den etwas anderen Festspielen
Wie wird der Name „Bayreuth“ ausgesprochen? Christian Thielemann meint: mit einer Aufwärtsbetonung auf „reuth“, also nicht schlapp, sondern stark.
Wir hören die Definition zum zweiten Mal, als unmittelbar vor Beginn eines außergewöhnlichen Konzerts der Ausschnitt aus dem vor ein paar Tagen erstmals ausgestrahlten Radio-Interview über den Vorplatz des Hauses Wahnfried schallt, denn üblicherweise beginnen die Bayreuther Festspiele ja so sicher wie das Amen in der Kirche am 25. Juli um präzis 16.00 MEZ. Dieses Jahr aber ist alles anders; die Festspiele wurden bekanntlich abgeblasen – und trotzdem begannen die nicht stattfindenden Festspiele in diesem Sommer am 25. Juli, präzis um 16.00: vor Wahnfried. Um es vorweg zu sagen: Es hätte schöner nicht sein können.
Über Leuten und zwischen Mikrophonen, aber sehr bei Walther von Stolzing: Klaus Florian Vogt
Für genau 400 Zuhörer boten der Musikdirektor der Festspiele und 14 Musiker aus den Reihen des Festspielorchesters 2020, zunächst aber Camilla Nylund, Klaus Florian Vogt und der vollkommene Begleiter, der Mann an Klavier: Jobst Schneiderat, einen Auftakt, der für Vieles entschädigt. Natürlich begann das Konzert, das in Wahnfried stattfand, aber vor Wahnfried auf die Leinwand rechts von der Fassade des Hauses projiziert wurde, mit dem trotzigen und furchtlosen „Fanget an“ aus jener Oper, die lange Jahre als deutsche Festspiel- und Feiertagsoper par exellence herhalten musste. Klaus Florian Vogt begab sich sodann mit Camilla Nylund, mit der er diesen Sommer als Meistersinger-Traumpaar hätte auftreten sollen, in die Eva-Stolzing-Szene aus dem 2. Akt. War es die Sommer- und Sonntagsstimmung, die nicht allein während dieser beiden Gesangspassagen für einen schwer zu beschreibenden Zauber sorgte? Gewiss nicht; mit dem Siegfried-Idyll setzten die 14 Kammermusiker unter Christian Thielemann dann fort, was bei den „Meistersingern“ schon ausbuchstabiert worden war: höchste Delikatesse, Feinheit der Stimmführung, dyamische Genauigkeit, mit anderen Worten: die Zartheit und Erfülltheit eines sehr langen magischen Moments (um es zwischen Sachlichkeit und Begeisterung auszudrücken).
Ein Meisterwerk in Meisters Haus: Christian Tielemann dirigiert das Siegfried-Idyll
Kommt hinzu, dass mit dem gleichzeitigen Blick auf die Fassade jenes Hauses, in der der Schöpfer dieser Wunderwerke ein paar Jahre lebte, für Bezüge und an anderen Orten kaum zu reproduzierende, mitschwingende Bedeutungsebenen sorgte. Der Genius loci tat sein Bestes, um aus dem Konzert ein Ereignis zu machen, das vergessen ließ, dass „eigentlich“ zur selben Stunde die Bayreuther Festspiele hätten eröffnet werden müssen.
Zum Schluss die Wesendonck-Lieder. Kann man sie überhaupt noch hören? Das Wunder geschah: Camilla Nylund, deren Stimme mit den Jahren immer reicher an Nuancen und dunklen Schattierungen wurde, sang sie, kammersymphonisch begleitet von der ökonomisch geleiteten Kammermusik, bezwingend ins Parterre. Besser als sie kann frau diese (in diesem Fall vom bekannten und äußerst versierten Andreas Nicolai Tarkmann bearbeiteten) Lieder vielleicht kaum singen.
Wagners Lieder-Träume – realisiert von Camilla Nylund
Hätte man danach noch weitere „Nummern“ von Wagner hören können? Unbedingt – und nein, denn die 70 Minuten, die an diesem Nachmittag dem dankbaren Bayreuther Publikum zu einem Dumping-Preis quasi geschenkt wurden, besaßen eine Intensität und Kompaktheit, die genug war für einen ganzen Tag. Insofern wäre es schön, wenn diese aus der Not geborene, von den Festspielen, der Musica Bayreuth und der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth zur Finanzierung der Künstler der Festspiele in Szene gesetzte Veranstaltung, die als Ersatz zu bezeichnen falsch wäre, eine Institution würde: genau an diesem Ort, in dieser lokalen Aura, mit erstklassigen und bewegenden Musikern und Sängern.
Eine Stunde vor Wahnfried ist vermutlich wertvoller als eine sechs Stunden dauernde Live-Übertragung auf dem aurafernen Bayreuther Volksfestplatz. Die Reaktionen der Zuhörer waren eindeutig genug. Kein Wunder angesichts der Schönheit der Musik, die an diesem Nachmittag die etwas anderen Festspiele 2020 eröffnete. Nur auf Leinwand und mit einem Sound, den man im nächsten Jahr hoffentlich noch ein bisschen besser einpegeln wird – aber dennoch mit größter Authentizität und Spannung.
Frank Piontek, 25.7.2020
Fotos © Frank Piontek