Premiere: 29.10. 2016, besuchte Vorstellung: 15.1. 2017
Es gibt gute Gründe, warum Martha einst die repräsentative Oper des deutschen Bürger- ja Spießbürgertums war. Auch verständlich, warum das einstmals superpopuläre Stück nur noch relativ selten auf den Spielplänen erscheint. Was Friedrich von Flotow und sein Librettist Friedrich Wilhelm Riese im November 1847 zur Uraufführung brachten, ist nicht nur dramaturgisch problematisch, denn das matte Spannungsfeld zwischen Adel und Landvolk, die, wie man früher gesagt hätte, „durch Liebe geläuterte“ Dame von Adel und der Geliebte, der schließlich, wie praktisch, durch das durchaus nicht überraschende Wunderrequisit eines Rings sich doch noch als adlig, also „standesgemäß“ erweist: das alles übertünscht so ziemlich jede sozialhistorische, ja psychologische Wirklichkeit. Bezeichnenderweise fand die Uraufführung nur ein halbes Jahr vor dem Versuch einer Revolution statt, die eben jene sozialen Umstände, die in „Martha“ fast vorbehaltlos anerkannt werden, beseitigen wollte. „Martha“ ist ein nicht sonderlich witziges Biedermeierstück zur bürgerlichen Verteidigung aristokratischer Anarchie, aber sicher keine „romantisch-komische Oper“ – warum sollte man es spielen?
Die Essenz einer Oper ist bekanntlich die Musik. Sie hat nicht unwesentlich zum Erfolg des Stücks beigetragen. An ihr liegt es gewiss nicht, aber, wie ein Kollege kürzlich schrieb: die Spieloper ist ein „Schmerzenskind“. Sie begegnet an sich heute selten auf den Bühnen; die Meisterwerke Lortzings, sogar Otto Nicolais Die lustigen Weiber von Windsor (das Lieblingsstück des Opernfreundes in dieser Gattung: ein prachtvolles Werk von den Scheiteln bis zu den Zehen), werden nur noch selten gebracht. Zu den Zeiten der seligen Anneliese Rothenberger war’s freilich noch anders…
Sie fällt zuerst ins Auge, wenn sich der Vorhang über der Inszenierung des Theaters Regensburg öffnet, die überregionale Aufmerksamkeit fand. Natürlich ist das, als Hinweis auf eine überlebte Aufführungstradition, witzig. Anneliese Rothenberger, diese Vokalgöttin der 50er und noch der 60er Jahre, nimmt in dieser Martha die Position ein, die das Bild der Frau Mama des Helden Lyonel einzunehmen pflegt: über dem Fernsehapparat, umrahmt von den hübsch kitschigen Lichtern einer farbigen Glühlämpchenkette. Ironisch begann es schon vorher, schon vor der Ouvertüre. Da konnte man per Video all die schönen „Bots“ angepriesen sehen, die die Firma Richmond (spezialisiert auf Haushaltsroboter) zu vertreiben hat: die „Mombot Rose“, „die „Housemaid Linle“, die „Playbot Nellie“ (für die Kleinen) – und die „Farmbot Martha“, eine „robuste Hilfe im Stall und auf dem Feld“, die auch „durch glockenhellen Gesang erfreut“.
Natürlich ist es witzig, dem sentimentalen und etwas biederen Humor der Flotowschen und Rieseschen Martha mit den Geschützen der Ironie beizukommen (es sei denn, man setzt ganz auf eine opulente Kostümausstattung und quasi realistische Bühne). Was der Regisseur Johannes Pöltgutter dem Stück vorgesetzt hat, klappt zunächst ganz gut, weil das allein Wesentliche: die Musik, den ganzen ersten Akt lang über tatsächlich das Spektakel mitmacht. Die Frauen auf dem Markt zu Richmond sind hier also keine menschlichen, sondern automatische Mägde, Androiden, Haushaltsmaschinen mit menschlichem Antlitz. Damit reagiert die Regie nicht nur auf die modernsten technischen Entwicklungen im Roboterbereich, sondern auch auf die merkwürdige Tatsache, dass die Mägde auf dem Verkaufsmarkt sich seltsam maschinenrhythmisch anpreisen. Man höre nur auf die Ostinati in den Bässen, der ihren an sich ganz „lustigen“ Chor seltsam unmenschlich begleitet. Pöltgutter und die Dramaturgin Christina Schmidt haben, zusammen mit der Kostümgestalterin Janina Ammon, den bemerkenswerten Charakter dieser Mägde-Musik gut herausgearbeitet. Und dass die beiden Ladys – Lady Harriett und ihre Nancy – sich vergnügen wollen, indem sie sich selbst als künstliche Haushaltshilfen verkaufen wollen, ist so spleenig, dass es überzeugt; immerhin spielt das Stück ja, theoretisch, in England.
Wie gesagt: Die Idee, dass die Frauen, die sich derart seltsam, wenn auch nur für ein Jahr, verkaufen, mit der Grundidee des Romans „Die Frauen von Stepford“ harmoniert, ist zunächst nicht von der Hand zu weisen. Ira Levin entwarf in seinem 1972 veröffentlichten und mehrmals verfilmten Roman die Zukunftsvision einer Gesellschaft, die ohne derartige Wesen nicht auskommt. Bei Levin ersetzen die Männer von Stepford langsam ihre realen Ehefrauen durch die Maschinenwesen, die – darin der unvergesslichen Maschinenfrau aus Metropolis nicht unähnlich – wie Supermodels aussehen. In der Regensburger Martha wird eben diese Idee von der Regie realisiert: im Finale verfällt Lyonel jenem Roboter, den Martha in ihrem Home gebastelt hat. Was soll ihm noch die „echte“ Martha, wenn er einen perfekten Androiden umarmen kann.
Die Idee ist gut – aber sie funktioniert leider nicht. Schon mit den ersten Takten des zweiten Akts wird klar, dass die Regie die Grundidee nur bis zum Ende des ersten, durchaus charmanten Akts derart bedacht hat, dass sie Sinn macht – die Akte 2 bis 3 sind in dieser Interpretation unlogisch, daher nicht allein für den Kritiker verwirrend. Das Regensburger Publikum reagiert sehr zurückhaltend auf die Idee der „Frauen von Richmond“, der Zwischenapplaus hält sich in Grenzen, der Tenor ist: „Aber die Musik ist schön.“ Die Idee funktioniert schon deshalb nicht, weil die Deutung des Lyonel als eines liebeskranken Mannes entweder suggeriert, dass es sich bei ihm um eine Art E. T. A. Hoffmannschen Nathanael handelt, der sich in eine Olympia verliebt – oder dass er schon schnell bemerkt, dass es sich bei dem Haushaltsroboter um eine „echte“ Frau handelt. Die erste Interpretation würde das Finale in dieser Deutung legitimieren, die zweite jedoch nur eine der beiden zentralen Aussagen der Erkennung und der Selbsttäuschung in seiner Auseinandersetzung mit der sich sträubenden Martha abdecken. Dann aber wäre es unverständlich, wieso er den Roboter der Frau vorzieht, die er als Mensch erkannt hat – dass schließlich auch Martha sehr zufrieden scheint, dass sich der lästige Mann der Kopie zuwendet, wird von Text und Musik konterkariert. Es sei denn, man nähme an, dass er eine emotionslose Maschine einer kapriziösen Frau vorzieht. Dies aber ist eine Umdeutung des Geschehens, die bei Flotow und Riese keinen Halt findet. Und wir müssen auch Martha als ernsthaft Liebende akzeptieren. Die Regie aber setzt sich über wesentliche Informationen, das heißt: über den Text und die Musik des dritten Akts hinweg, um eine „Konzeption“ und ein Finale zu ermöglichen, das weder so noch so aufgeht. Die Verwirrung im Publikum – leider, denn man hat dem Haus bei diesem musikalisch schön wie dramaturgisch glatten Stück natürlich viel Glück gewünscht – ist nur zu verständlich.
Gegen Ironie an sich ist allerdings bei diesem Stück an sich wenig zu sagen. Wenn Harriet und ihre Upper-Class-Freundin als Trinkerinnen aus Langweile eingeführt werden und Nancy sich als emanzipierte Frau entpuppt, die nichts gegen einen One-Night-Stand hat, mit Freude und einem Gewehr im künstlichen „Wald“ auf den Kerl zielt und den Ehering des Lovers Plumkett verständnislos zurückweist: Es geht gerade gut. Die Diskrepanz zwischen Text und Handlung kann man dort leicht verschmerzen, wo man die Handlung an sich versteht und nicht allzu absurd empfindet; dass man den Text versteht, ist allerdings bisweilen nur der Übertitelungsanlage zu verdanken. Theodora Varga singt die hibbelige Martha als Koloraturqueen mit leicht ungerichteter Stimme, auch die berühmte Letzte Rose, die sie per Fingernagelübertragung von der alten Schallplatte in ihr Gesangsorgan zu übertragen scheint. Der Vergleich mit der wunderbaren Anneliese Rothenberger ist allerdings gefährlich. Vera Semieniuk spielt die Nancy auch als stimmlich überzeugendere Freundin mit einem gehörigen Maß an Sexappeal, der ein Heer von einem Dutzend betont künstlich aussehender Roboterinnen zur Seite steht. Später wird eine Schwadron von männlichen Androiden den Roboterchor verstärken.
Angelo Pollak darf mit seinem schönen, ausbaufähigen Tenor in Anwesenheit einer kaputten Gliederpuppe seine „Große Arie“ Ach wie so fromm singen, was ins Konzept, aber nicht in die musikalische Stimmung passt. Wie gesagt: man nähme an, dass Lyonel ein verkappter Nathanael ist – aber Martha ist nun mal keine Olympia. Daher geht auch die Wirkung des zweiten Akts verloren, weil das Spiel zwischen den „falschen“ Mägden und den beiden Männern in seinem Doppelsinn, versehen mit sehr konkreten Texten, schlicht und einfach nicht überzeugt. Jongmin Yoon aber singt als Plumkett einen sehr schönen Bariton, der wenigstens vokal mit den Torheiten der Regie versöhnt. An diesem Abend ist Mario Kleins Lord Tristan, der doch ein komischer Gegenpol zu Lyonel sein müsste (und als Marke im Regensburger Tristan noch in guter Erinnerung ist: auch er ein störender Dritter), leider indisponiert, aber auch szenisch ist er leider an diesem Abend kaum vorhanden.
Die Musik, soweit es das Orchester betrifft, aber ist ganz da, und die Essenz einer Oper ist, siehe oben, ganz die Musik. Unter der Leitung Israel Gurskys werden die Meriten der Flotowschen Muse ins schönste Licht gestellt. Martha ist weder ganz deutsch noch ganz französisch; am ehesten könnte man die großen lyrischen Nummern als „deutsch“, die Rhythmen und Melodien, die man seinerzeit als „pikant“ bezeichnet hätte, als „französisch“ bezeichnen. Das Philharmonische Orchester Regensburg hat hörbar Freude an der Partitur, aus der sie die Laune, die Sensibilität der Partitur und einzelne Schönheiten wie den seidigen Steicherklang zu Beginn des vierten Akts mit Wonne herausspielt. Über diesen Einzelheiten vergisst man tatsächlich manch handwerklich schwach gemachte Grobheit wie jene, die den armen Lyonel am Ende des zweiten Akts zu einem „Bot Boy“ macht, der von Martha und der herzlosen Bande buchstäblich in kalte Bande geschlagen wird.
Schon recht: man versteht ja, was die Regie uns sagen will, und man begreift, dass dem Stück vielleicht nur mit Ironie beizukommen ist. Wenn nach dem Schlussakkord aber eine repräsentative Stimme beim Nachgespräch im gegenüberliegenden Wirtshaus das ausspricht, was wohl viele Besucher dachten: „Des war a komischer Schluss“, ist das Stück, ungeachtet einzelner witziger Ideen, rein szenisch betrachtet verloren.
Frank Piontek, 17.1. 2017
Fotos (c) Theater Regensburg / Juliane Ziztlsperger