3. und 4. Dezember 2021
Die Lücke ist wieder gefüllt
Wäre Agnes Su nicht bereits nach ihrem Tatjana-Debut in „Onegin“ vor ca. drei Wochen auf offener Bühne von Ballettintendant Tamas Detrich zur Ersten Solistin ernannt worden, hätte sie spätestens jetzt diese Beförderung erhalten. Innerhalb dieser doch kurzen Zeitspanne in zwei so grundverschiedenen anspruchsvollen Hauptpartien auf Anhieb so zu reüssieren, ist wirklich keine Selbstverständlichkeit. Die Amerikanerin beweist nach ihren dramatischen Gestaltungsfähigkeiten nun als Aurora eine ebenso verblüffende Leichtigkeit in Verbindung mit intuitiver musikalischer Phrasierung für große klassische Ballettkunst. Eine kurze, evtl. auch durch den Einsatz der vier Prinzen hervor gerufene Nervosität bei der ersten langen Balance im Rosen-Adagio war schnell beseitigt, im weiteren Verlauf dieses Bravourstücks demonstrierte sie eine ausgiebige gelöste Standsicherheit, die fast bedauern ließ, dass die Musik schon zu Ende war. Mit exquisiter, ganz klar und fein exekutierter Beinarbeit und weich fließenden Armbewegungen in den weiteren Solo-Variationen, vor Freude und Neugier strahlenden Augen bei ihrem Geburtstagsfest, traumverlorenem Blick in der Vision und siegessicherem Lächeln bei der Hochzeit erfüllt sie alle Anforderungen tief überzeugend. Damit hat sie die von Hyo-Jung Kang nach deren Wechsel nach Wien hinterlassene Lücke würdig geschlossen.
Adhonay Soares Da Silva, Agnes Su. Foto: Stuttgarter Ballett
Technisch aus dem Vollen schöpft auch der erstmals als Prinz angetretene Adhonay Soares Da Silva. Der Brasilianer knüpft als Desiré an große Vorgänger mit brillant schnellen und gleichmäßigen Pirouetten und Schraubsprüngen sowie spritzig gesteigerten Manegen an. Das alles in sauberster Qualität und mit jenem entscheidenden Funken Virtuosität, der die Stimmung anzuheizen vermag. Die eher etwas beschränkten, in einfachen Schablonen behafteten darstellerischen Möglichkeiten des Ersten Solisten fallen da nicht ins Gewicht, darf er hier doch einfach der Prinz sein, der der Vision Auroras mit Sehnsucht folgt und über ihre Erlösung strahlt. Zuvor hat er sich noch in eine mitreißende Auseinandersetzung mit Carabosse in Gestalt von Ciro Ernesto Mansilla geworfen, in der sich beide ein Duell an expressiv geladenen hohen Sprüngen liefern. Der argentinische Solist mit Hang zu exaltierter Verausgabung dürfte sich in der allein schon optisch heraus stechenden schwarzen Fee mit ihrer funkelnden Mimik und die Bühne vereinnahmenden Auftritten pudelwohl fühlen. Während Jason Reilly am Vorabend wieder mehr das Androgyne dieser Figur schillernd zum Vorschein brachte, betont Mansilla mehr die männliche, zynische Seite des Bösen. In der erstmals mit einer tragenden Rolle debutierenden Gruppentänzerin Alicia Torronteras hat er eine ihm schon recht bestimmt und selbstbewusst gegenüber tretende Fliederfee als Kontrahentin. Die zierliche Spanierin lässt die Macht des Guten mit edel schöner Attitude und feinen Bahnen auf Spitze wirken, nachdem sie tags zuvor bereits als Fee der Schönheit viel versprechende Solo-Qualitäten zeigte.
Veronika Verterich, Marti Fernandez Paixa, (2. Akt). Foto: Stuttgarter Ballett
Gegensätzlich dazu die irdisch direktere, trotz freundlicher Ausstrahlung etwas kühl ihres Amtes waltende, jederzeit tadellos auf Spitze balancierende Veronika Verterich. Unter ihrer Regentschaft waren wieder Rocio Aleman und Marti Fernandez Paixa als auch menschlich berührendes Paar im Einsatz. Die Mexikanerin hatte zwar nicht ihren besten Tag, füllt die Aurora aber mit zuverlässiger Spitzentechnik und lyrisch aparten Linien bis in die Hebungen hinein in jedem Moment menschlich berührend aus. Letzteres auch ein Verdient ihres attraktiven Partners, der seine Geschmeidigkeit in allen Varianten der danse d’école bis hin zu den fließend eingebundenen Hebefiguren bewahrt.
Unbedingt zu erwähnen ist der Blaue Vogel-Nachwuchs bei der Märchenhochzeit: Timoor Afshar stattet ihn trotz athletisch kraftvoller Größe mit dem erforderlichen leichten Flügelschlag und setzt die Choreographie flüssig aus; Elisa Ghisalberti, die ebenfalls neue Prinzessin an seiner Seite, behauptet sich mit gestaltungstechnischer Sicherheit, die kein Debut vermuten läßt. Das betrifft auch ihre Fee der Klugheit.
Alicia Torronteras (2. Akt). Foto: Stuttgarter Ballett
Am Abend danach erfreuten der nun ganz in den Part hinein gewachsene Christian Pforr durch klare körperliche Ausgeglichenheit, und Fernanda Lopes mit grazil feiner Technik.
Zu berichten ist auch von zwei neuen im Quartett der um Aurora werbenden Prinzen. Martino Semenzato (Süden) und Christopher Kunzelmann (Westen) fügen sich in unterschiedlicher Ausrichtung in deren diverse Sprungeinsätze mit verbesserungsbedürftiger Hilfestellung für Auroras Rosen-Adagio ein.
Mit Power und sensibel austariertem Einsatz fällt Mackenzie Brown sowohl als Fee der Kraft und als Rubin im Hochzeitsakt auf, da dürfte eine Entwicklung zu einer führenden Position vorgezeichnet sein. Und Adrian Oldenburger hat einen Aufstieg jetzt schon verdient, seine unter den Corps de ballet-Tänzern heraus ragende Sprungkraft bringt er als Ali Baba mit auf ihn zu geschnittenen Variationen effektiv zur Geltung.
Ein Schwachpunkt ist leider Louis Stiens, der mit dem Zeremonienmeister keinen glücklichen Eindruck macht und ihn mit Übertreibung ins Lächerliche verzerrt. Im direkten Kontrast zu Alessandro Giaquintos mit Geschmack und Liebe dosierter Zeichnung fällt es doppelt auf.
Wolfgang Heinz leitete das Staatsorchester Stuttgart mit antreibender Energie zu einem Wechsel aus delikater Klangschönheit und Vergröberungen, die wohl nur durch eine gründlichere Probenarbeit an Details vermieden werden könnten. Der opulenten Wirkung von Tschaikowskys farbenreicher Musik kann dies nichts anhaben.
Die erfreulichste Erkenntnis dieser Aufführungen: die Zukunft des Märchen-Klassikers ist durch würdige Nachkommen gesichert.
Udo Klebes, 10.12.21
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