Aufführung am 22.10.2019
62. Aufführung in dieser Inszenierung
Der Abend war nicht ausverkauft, es gab sogar noch Stehplätze im Parterre. Doch wer immer geschwänzt hat, ist um den Genuß einer außerordentlichen „Werther“-Aufführung gekommen. Das dankte man zwei Herren – zuerst Frédéric Chaslin, ohne Partitur am Pult, und diesmal einfach ideal „besetzt“: Er hat diese Goethe-Oper Massenets voll Lyrik und dramatischer Verzweiflung und vielen kleinen, interessanten, verstörenden Elementen mit einem ihm lustvoll folgenden Orchester mitreißend realisiert, nicht nur die Sänger auf den Händen getragen (auch wenn er manchmal, nur manchmal eine Spur zu laut wurde), sondern jeweils die Stimmung des Geschehens perfekt mitgezeichnet. So gehört es sich, ist aber im Alltag ein Glücksfall.
Den Werther sang Vittorio Grigolo, ein Sänger, aus dem sich die Wiener erstaunlicherweise nicht viel machen – und dabei ist er unter den Tenören ein besonderer. Einer, dessen Stimme nicht in verschiedene Klangfarben zerbricht und auch nicht in irgendeiner Tonhöhe aussetzt, sondern fugenlos durch alle Register geht. Und in den Piani ebenso sattelfest ist wie in strahlenden Spitzentönen, die nie Gefahr laufen, Ohrenpein zu bereiten. Eine durch und durch bemerkenswerte, schöne Stimme, die technisch vorführen kann, wie man es macht: nicht zuletzt sein „Pourquoi me reveiller“ beweist es.
Dazu kommt sein persönlicher Einsatz – immer, man weiß es eher aus New Yorker Übertragungen (von einst) denn aus der Staatsoper, wo er bisher, vor diesem Werther, zwischen 2013 und 2019 genau zehn Mal (in vier verschiedenen Rollen) auf der Bühne stand. Gewiß, er spielt den Werther von Anfang an mit einer Art von tremolierendem Pathos – aber man kann diesen Liebesverrückten nicht unterspielen, sonst stimmt gar nichts mehr an der Figur. Und wenn er auch (wie Florez) gelegentlich die Tendenz zeigt, Spitzentöne mit ausgebreiteten Armen ins Publikum zu schmettern, so wirkt er doch nie eitel, berechnend oder oberflächlich, sondern immer total in der Figur. Den Teil des Publikums, der gekommen war, hat er diesmal überzeugt – da gab es verdiente Jubelstürme.
Neben Grigolo debutierte auch Elena Maximova an diesem Abend in der Rolle der Charlotte. Sie hat einen wirklich schön timbrierten Mezzo mit nicht den geringsten Höhenproblemen, und dass ihre Stimme „leicht“ ist, gefällt für diese Rolle besser als dramatisch auftrumpfende Sängerinnen – schließlich ist Charlotte noch ein junges Mädchen, das seine Gefühle unterdrücken muss und ihnen erst nachgibt, als es zu spät ist. Leider ist die Inszenierung, die uns nach 14 Jahren noch immer nicht gefällt (mit einer Art „Weltesche“ im Zentrum, um die man schäbiges fünfziger Jahre Mobiliar stellt), in ihrer Ausstattung für Charlotte besonders unvorteilhaft – mit der künstlichen blonden Monroe-Frisur und vor allem im zweiten Akt mit dem grauen Kostüm so reizlos entstellt, dass man sich fragt, was Werther hier zum Liebeswahnsinn treibt… Regisseure und Ausstatter wissen gar nicht, was sie Sängern oft antun. Dennoch war die Leistung der Elena Maximova schön, vor allem, wenn sie im letzten Akt ihrer Liebe nachgibt, auftaut und dann in die Verzweiflung stürzt. Da funkte es regelrecht zwischen ihr und ihrem Partner.
Die Aufführung hat, wie so dankenswert oft, mit zwei Ensemblemitgliedern zwei Idealbesetzungen zu bieten. Gewiß, die Schwester Sophie gibt nicht viel her, aber wenn Daniela Fally nicht nur mit unverändert schönem, glockenreinem Sopran prunkt, sondern auch herzlich gern die Aufmerksamkeit von Monsieur Werther erringen will, bleibt sie durchaus nicht am Rande. Und wie Adrian Eröd den durch und durch stockigen Ehemann Albert spielt, den selbstgefälligen Bürger, dass man mit Charlotte nur tiefstes Mitleid empfinden kann, so ist das ein ganz wichtiger Teil in der Dramaturgie des Abends (wo dann noch Hans Peter Kammerer, Benedikt Kobel und Ayk Martirossian ihre Nebenrollen-Aufgaben erfüllen).
Es hat sich, dank eines hervorragenden Solistenquartetts und eines ebensolchen Dirigenten auf der Bühne ein echtes Drama abgespielt. Das Publikum spürte es und ließ seiner Begeisterung freien Lauf.
Renate Wagner, 25.10.2019
Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Pöhn