Bericht von der zweiten Aufführung am 22. Januar 2020 (Premiere am 18. Januar 2020)
Nicht Fisch, nicht Fleisch
Die Passionsgeschichte des Evangelisten Matthäus bietet bereits im biblischen Original großes Kino: eine dramatische Verhaftungsszene, ein spannender Prozeß, drastische Folterberichte und eine Hinrichtung mit apokalyptischen Begleiterscheinungen samt Finsternis, Erdbeben und aus den Gräbern erstehenden Toten. Johann Sebastian Bach hat diesen Text in lebendigen Rezitativen und plastischen Turbachören wirkungsvoll vertont. Nimmt man alleine dieses Gerüst, dann hat man ein traditionelles Passionsspiel. Daß dieser starke Handlungsverlauf immer wieder reflektierend und kontemplativ von Arien unterbrochen wird, unterscheidet das Passionsoratorium rein formal nicht von einer typischen Barockoper. Es ist vielmehr das von Bach bei der Wahl der Arientexte und ganz besonders beim Einflechten von Kirchenchorälen dezidiert verfolgte theologische Programm, welches das Werk als tönende Predigt für Opernbühnen heikel erscheinen läßt. Die wenigen gelungenen szenischen Adaptionen, etwa das Ballett von John Neumeier oder die „Ritualisierung“ genannte halbszenische Einrichtung von Peter Sellars, sind einen Weg der gestischen Abstraktion gegangen. Dem Programmheft ist in einem Doppelinterview mit der Regisseurin Johanna Wehner und dem Dirigenten Konrad Junghänel zu entnehmen, daß es die gemeinsame Linie des Produktionsteams war, keine szenische Umsetzung des Passionsgeschehens auf die Bühne zu bringen. Ein solches Vorgehen bezeichnet die Regisseurin als „Oberammergau“ und „Horrorvision“. Leider bleibt die Frage, was denn sonst dargestellt oder gezeigt werden soll, den gesamten Abend über unbeantwortet.
Das Bühnenbild von Volker Hintermeier wird dominiert von einem riesenhaften, liegenden Kreuz, welches leicht abschüssig in den Orchestergraben hineinragt. Es zitiert barocke Formen und wird baldachinartig von einer modernen und mit Neonröhren bestückten Kreuzesvariante in der Höhe gedoppelt. Im Hintergrund sind allenfalls schemenhaft die Umrisse der Rosette eines Kirchenfensters zu erkennen. Sie verschwindet fast vollständig hinter dichtem Dauernebel, so als habe die Regisseurin diese Andeutung eines sakralen Raumes im letzten Moment wieder unsichtbar machen wollen. Die gewaltige Kreuzesskulptur entfaltet eine solche Wucht, daß man ihr szenisch irgendetwas von vergleichbarer Stärke entgegensetzen müßte. Das gelingt im Verlauf der Aufführung kaum, auch weil die Regisseurin ersichtlich nichts mit dem theologischen Programm Bachs von Schuld, Sündentilgung und Blutopfer anzufangen weiß. Worum es aber sonst gehen soll, bleibt in ihren Erläuterungen im Programmheft blaß („… ich will nur sagen, daß wir in eine Auseinandersetzung damit treten müssen, wen wir anklagen oder wen wir beschützen, wenn wir meinen, es gäbe dort jemanden, der für uns die Sünden trägt.“), auf der Bühne bleibt es unsichtbar.
Julian Habermann (Evangelist) mit Chor
Die beiden Kreuzbalken dienen bloß als Laufstege, auf denen die Protagonisten mal herumschreiten, mal verharren. Der Chor findet seinen Platz links und rechts davon. Die längste Zeit sitzt oder steht er einfach da. Irritierend ist, daß die Chorsänger Notenpulte vor sich haben. Der Inszenierungsgedanke dahinter erschließt sich nicht. Womöglich war es ihnen einfach nicht möglich, den Text auswendig zu lernen, so daß die Regie das Aus-den-Noten-Singen einfach mitinszeniert hat. Gekleidet ist der Chor in wahllos erscheinende Kostüme aus mehreren Jahrhunderten, die von der Trauerfarbe Schwarz dominiert werden. Mitunter werden Sonnenbrillen getragen, warum auch immer. Leider läßt die Textverständlichkeit des Chores zu wünschen übrig. Er bewältigt ansonsten seine umfangreichen Einsätze musikalisch insgesamt ordentlich. Wenn man einen Opernchor dabei im Hinblick auf Lockerheit bei den Koloraturen und Transparenz im polyphonen Partiturgeflecht nicht an den Maßstäben mißt, die auf Barockmusik spezialisierte Ensembles setzen, kann man mit der Leistung zufrieden sein.
Konstantin Krimmel (Jesus) mit Chor
Optisch und musikalisch ist Konstantin Krimmel ein idealer Darsteller des Jesus. Von großer Gestalt, mit langen Haaren und Bart sieht er aus, als ob er aus einem Altarbild gestiegen wäre. Sein Bariton verfügt über eine attraktive Mittellage, eine leuchtende Höhe und ein kernig-sattes Fundament in der Tiefe. Der junge Tenor Julian Habermann tut sich in der ersten Hälfte des Abends ein wenig schwer mit der hohen Lage der Partie des Evangelisten. Auch zeigt er leichte Textunsicherheiten. Mehr und mehr faßt er aber Tritt und hinterläßt so insgesamt mit deutlicher Artikulation einen soliden Gesamteindruck. Szenisch hat die Regie für ihn wie für alle anderen oft nichts anderes zu tun, als zu schreiten oder zu verharren. Immerhin darf er gelegentlich mit einer Handgeste auf andere Beteiligte weisen, die gerade erwähnt werden oder deren Auftritt bevorsteht.
Einen guten Eindruck hinterlassen die beiden Solistinnen. Anna El-Kashem kann ihren hellen, schlanken und koloraturensicheren Sopran stilgerecht einsetzen. Sehr schön, in schlichter Trauer und ohne Pathos etwa gelingt im Zusammenspiel mit Oboen und Flöte die Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“. Der Alt von Anna Alàs i Jové klingt im Kontrast dazu opernhaft-üppiger. Aber auch sie gestaltet ihre Arien geschmackvoll und überzeugt mit dunkler Abtönung ihrer Stimme gerade auch in der inzwischen zur Wunschkonzertnummer verkommenen Arie „Erbarme dich“. Die Bariton-Arien bewältigt Wolf Matthias Friedrich kernig und mit sehr intensiver Artikulation. Er hat dabei die Eigenart, immer wieder einzelne Töne und Silben dynamisch zurückzunehmen, was auf Kosten der Gesangslinie geht. Gerne hätte man gehört, wie Benjamin Russell mit seiner frischeren und samtigeren Stimme diese Arien interpretiert. Er darf lediglich in den Kleinpartien des Judas und Pilatus zeigen, über welches Potential er verfügt.
Konrad Junghänel hat die Musiker wie gewohnt zu historisch informiertem Spiel angehalten mit vibratoarmen Streichern und Holzbläsern sowie sprechender Artikulation. Doch anders als bei seinen farbigen Mozart-Interpretationen wirkt der Klang hier monochrom, stellenweise ruppig und grobkörnig. Auch scheinen die szenischen Aktionen und die Verteilung der Protagonisten in der Tiefe der Bühne sich ungünstig auf die Koordination der Einsätze ausgewirkt zu haben.
Insgesamt kann die ordentliche musikalische Qualität für sich genommen nicht begründen, warum man mit einem Opernensemble ein Werk aufführt, bei dem die Erwartungshaltung des Publikums seit Jahren von in immer höhere Sphären der Perfektion entschwebenden Spezialensembles geprägt wird. Wenn man der Regisseurin zugestehen will, daß sie keine platte Bebilderung des Textes gewollt hat, dann hätte deutlicher werden müssen, wofür der szenische Aufwand mit Bühnenbild und Kostümen denn sonst betrieben wurde. Daß nämlich, wie die Regisseurin sagt, das Passionsgeschehen nur in der Musik stattfinde und sich ausschließlich vor dem inneren Auge des Zuhörers entfalte, gilt für jede herkömmliche konzertante Aufführung ebenso. Die Wiesbadener Produktion ist damit weder Fisch noch Fleisch: Sie überzeugt nicht als reines Oratorium, und als Opernaufführung verläßt sie sich zu sehr auf die Wirkung eines starken Bühnenbildes, dem sie gestisch wenig entgegenzusetzen hat.
Michael Demel, 29. Januar 2020
© der Bilder: Karl und Monika Forster