Das Schlitzohr Falstaff wird in der subtilen Inszenierung von Andrea Moses als Opfer der Leistungsgesellschaft dargestellt. Wein, verheiratete Frauen und Geld sind sein Lebenselixier. Er betrügt sich damit aber selbst, weil er kein Geld hat. Und er muss schließlich feststellen, dass er selbst der von den Frauen Genasführte ist. In dieser Komödie finden deswegen nur Nannetta und Fenton ihr Glück. „Überall in der Welt nur Jux und Tollerei!“- so endet dieses hintersinnige Werk in der suggestiven Textdichtung von Arrigo Boito. Ehrgeizige Damen trainieren hier auf dem Hometrainer – und auch das „Dolce Vita“ Italiens kommt bei dieser Aufführung nicht zu kurz. Da erklingt einmal sogar die Stimme von Adriano Celentano.
Holzgerüste verdeutlichen das Wirtshaus zum Hosenbande, wo Sir John Falstaff zwischen den Hurenhäusern Londons und den Gasthäusern in Windsor immer wieder Station macht. Die „Lustigen Weiber von Windsor“ lassen grüßen. Falstaff muss die Diebstahlsvorwürfe von Dr. Cajus gegen seine Kumpane aus der Welt schaffen. Die beiden Damen Alice Ford und Meg Page sowie Miss Quickly und Alices Tochter Nannetta treffen sich – und man entdeckt, dass die von Sir John Falstaff erhaltenen Liebesbriefe identisch sind. Die Frauen beschließen nun, sich zu rächen. Das geschieht bei Andrea Moses auf turbulente Weise, denn nach und nach wird die gesamte Gesellschaft von diesem Rachefeldzug gegen den alten Schwerenöter infiziert und zu weiteren Aktionen angestiftet. Da Bardolfo und Pistola als Zuträger für Alices heftig eifersüchtigen Gatten Ford agieren, spitzt sich die Situation bald in brenzliger Weise zu. Die Männer stürmen schließlich auf der Suche nach Falstaff aus dem Haus, der sich in letzter Minute in einem Korb verstecken kann.
Die Personenführung gehört neben dem geglückten Hausumbau zu den Stärken dieser rasanten Inszenierung von Andrea Moses. Höhepunkt ist in jedem Fall die grandios gestaltete Bloßstellung Falstaffs durch die Frauen und Männer in Windsor, wobei der ungeschickt agierende Casanova mit einem Hirschgeweih erscheint. Nannetta als Elfenkönigin verdreht ihm dabei gehörig den Kopf – es kommt zu Spuk-Szenen mit Exorzismus-Assoziationen wie in einer verrückten Walpurgisnacht. „Alles ist Spaß auf Erden“ – am Ende möchte Ford das Paar Cajus-Elfenkönigin trauen. Unter dem Schleier des zweiten Paares entdeckt man Bardolfo. Nannetta und Fenton werden Mann und Frau. Das gesamte Geschehen wird bei Andrea Moses im Bühnenbild von Jan Pappelbaum und mit den die Kontraste zweier Gesellschaftsschichten herausstellenden Kostümen von Anna Eiermann auch auf der oberen Empore in einem Spiegel sichtbar, was ein hübscher Einfall ist.
Die Inszenierung verwandelt sich von einem eher spartanisch-kargen in einen märchenhaft-üppigen Stil, wo die Natur letztendlich triumphiert. Unter der inspirierenden Leitung von Friedrich Haider musiziert das Staatsorchester Stuttgart ausgesprochen einfühlsam, aber auch feinnervig und explosiv. Das flexible Changieren zwischen rezitativischer oder melismatischer Wechselrede („parlando“) und solistischen Gesängen arios oder im Sprechduktus zeigt sich in vielen Facetten. Spielerisch leicht kommt dabei diese Musik daher, die Liebesgefühl, Rachegedanke und Siegesgewissheit mitreißend beschreibt. Feurig lässt Friedrich Haider den Fortissimo-Beginn mit dem dreitaktigen Motiv in C-Dur Revue passieren. Und der Zauber dieser „Commedia lirica“ entfaltet sich wie von selbst.
Seine Mahnung, mit Anstand und zur rechten Zeit zu stehlen („Rubar con garbo e a tempo“) betont der wandlungsfähige Bariton Lucio Gallo als Falstaff sehr leise mit einer kurzen kantablen Phrase. Die dynamischen Kontraste treten hier deutlich und reizvoll hervor – auch beim legato-Septsprung im f. Hintergründiges wird so musikalisch raffiniert angedeutet. Das Unergründliche dieser reifen Opera buffa lässt den Sängern bei dieser Aufführung viel gestalterischen Spielraum zwischen Arioso und Parlando. Auch die in kleinste Notenwerte aufgelöste Sprachmelodik entfaltet sich fast genüsslich. Diese Beschwingtheit der Diktion beherrscht ebenso die fulminanten Auftritte der anderen Künstler, Pawel Konik als Alices Gatte Ford, Mingjie Lei als Fenton, Christophe Mortagne als Dr. Cajus, Torsten Hofmann als Bardolfo und Jasper Leever als Pistola. Aparte koloristische Reize treten dann vor allem bei den überaus verführerisch agierenden Damen hervor. Astrid Kessler als Mrs. Alice Ford, Claudia Muschio als deren Tochter Nannetta, Marianna Pizzolato als Mrs. Quickly und Ida Ränzlöv als Mrs. Meg Page zelebrieren die melodischen Steigerungen in geradezu überwältigender Weise. Eine polyphone und kontrapunktisch reiche Stimmung macht sich breit, die von Friedrich Haider und dem Staatsorchester Stuttgart nie gebremst wird.
Auch der von Maarten Güppertz fast schelmisch dargestellte Wirt sorgt für satirische Reminiszenzen. Komik und Wortwitz steigern sich immer weiter, während die Handlungsebenen bei Andrea Moses in raffinierter Weise überblendet werden. Im Vordergrund geht die unaufhörliche Jagd nach Falstaff nämlich weiter, während im Hintergrund das Liebesspiel zwischen Nannetta und Fenton aufblitzt. Ein weiterer Höhepunkt ergibt sich bei jener Szene, wo Falstaff im Liebesrausch der verblüfften Alice wie betrunken zu Füßen liegt. Das Buffa-Geplapper eskaliert zuletzt immer hemmungsloser, wobei auch der Staatsopernchor (Einstudierung: Bernhard Moncado) in hervorragender Weise agiert.
Die Schlussfuge wird bei dieser Aufführung akribisch durchleuchtet. Da zündet Friedrich Haider mit dem Staatsorchester Stuttgart brillante Leuchtfeuer und Raketen, das Ensemble wächst immer mehr zur Einheit zusammen, klangliche Schwachpunkte werden ausgemerzt. Jubel, „Bravo“-Rufe.
Alexander Walther 18. Mai 2023
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)
17. Mai 2023
Regie: Andrea Moses
Dirigat: Friedrich Haider
Staatsorchester Stuttgart