Der russische Choreograf Alexei Ratmansky ist kein Unbekannter beim Staatsballett Berlin – 2014 überließ er der Compagnie sein für das New York City Ballet geschaffene Grand Divertissement Namouna. Bei der zweiten Arbeit in Berlin widmete er sich der Rekonstruktion von Marius Petipas Grand Ballet La Bayadère – ein neuerlicher Versuch des Russen, sich nach Versuchen in Moskau, New York, Amsterdam, Zürich und Mailand mit den Werken des legendären Choreografen auseinanderzusetzen. Man darf nicht an Rudolf Nurejews oder Natalia Makarowas Versionen in Paris und beim New Yorker ABT denken, wenn man das Stück nun in der Lindenoper erleben kann. Auf deren bravouröse Szenen mit geradezu artistischen Schwierigkeiten wartet man hier vergeblich. Bei der Uraufführung 1877 in St. Petersburg, die dort 1900 eine Neueinstudierung erfuhr, wurde anders getanzt – delikater, feingliedriger, ziselierter. Das nun sehen zu können ist das große Verdienst dieser Neuproduktion. Und für den Kenner ist es aufregend festzustellen, was in dieser Deutung neu ist, was fehlt, was umgestellt wurde. Vor allem der 1. Akt im heiligen Hain mit dem Ritual des heiligen Feuers irritiert durch die fast durchgehende Konzentration auf die Pantomime, die ungewohnt reiche Zeichensprache und den Verzicht auf den poetischen Pas de deux zwischen Nikia und Solor, der beider Liebe so eindrücklich zeichnet. Einzig der Fakir Mahdawaja von Vladislav Marinov fällt durch seine vitale Körpersprache und die enorme Sprungkraft auf. Immerhin darf sich die Titelheldin bei ihrem Entree mit einem Tanzsolo einführen und Polina Semionova empfängt vom Premierenpublikum dafür den ersten Szenenbeifall. Die Erste Solotänzerin des Ensembles ist eine Erscheinung von rassiger Schönheit und hoheitsvoller Aura, dazu mimisch und gestisch von beredter Aussagekraft. Neben ihr bleibt der Solor von Alejandro Virelles in der Ausstrahlung blass. Im Königreich der Schatten, dem berühmten Kernstück des Balletts, hat er dann auch Gelegenheit, technisch zu brillieren. Er absolviert seine Variationen im Pas de deux mit Nikia zuverlässig, kommt aber über ein solides Niveau nicht hinaus. Semionova dagegen bezaubert in ihren Soli mit Eleganz und zarter Innigkeit, ohne es an Bravour fehlen zu lassen, die in dieser Deutung vor allem in der reichen Fußarbeit verlangt wird. Als ihre Rivalin Gamsatti ist Yolanda Correa die zweite Trumpfkarte der Besetzung. Sie trägt den 4. Akt im Palast des Radscha, wo ihre Vermählung mit Solor stattfinden soll, glänzt mit virtuosen Variationen im Rahmen des Pas de deux mit Solor, die in späteren Deutungen schon im 2. Akt zu sehen waren. Dass diese nun in das letzte Bild verlegt sind, wertet den sonst tänzerisch mageren Schlussakt deutlich auf. Das spektakuläre Solo des Goldenen Gottes freilich fehlt – es wurde erst 1948 für eine Fassung von Nikolai Subkowski in Leningrad erfunden. Neu ist dagegen die Figur des Toloragwa, Solors Freund, der von ihm Teile des Pas de deux mit Gamsatti übernimmt. Alexej Orlenco kann die anfänglich statuarische Rolle mit tänzerischer Energie verwandeln und sich mit Nikias Schatten sogar zu einem zweiten Paar vereinen.
La Bayadère ist auch eine Herausforderung für das Corps de ballet, das im Schattenreich schier unzählige Arabesken zu zelebrieren hat – und das mit absolut höchster Präzision und Synchronität. Den 32 Tänzerinnen gelang dies bis auf minimale Unsicherheiten höchst eindrucksvoll. Auch die drei Solo-Schatten (Iana Balova, Aurora Dickie, Krasina Pavlova) wussten mit virtuosen Auftritten zu imponieren.
Was die Aufführung einzigartig macht, ist ihr Schauwert von luxuriösem Prunk, wie man es seit Medvedevs/Burlakas historischem Nussknacker nicht mehr gesehen hat. Jérome Kaplan schuf opulente Bühnenbilder – ein indischer Tempel inmitten üppiger exotischer Vegetation, kunstvolle Wände aus holzgeschnitzten Intarsien, der majestätische Palast des Radscha vor der Kulisse des Himalaya, das Wolken verhangene Bergmassiv im Schattenreich, die Säulenhalle des Radscha, eingerahmt von Soffitten in dekorativer Ornamentik. Unbeschreiblich ist die Pracht der Kostüme aus kostbarsten Seidenstoffen in schimmernden Goldtönen von vielerlei Abstufungen und Schattierungen, schillernden Farben in delikaten Nuancen und Facetten. Es ist eine Orgie – und doch stets gefasst im ästhetischen Rahmen.
Schließlich hat auch die Staatskapelle Berlin hohen Anteil am großen Erfolg der Premiere (4. 11. 2018). Sie lässt unter Victorien Vanoosten die Musik von Ludwig Minkus in ihrem schwelgerischen Melos und dem exotischen Parfüm aufblühen, ohne deren dramatische Akzente zu vernachlässigen.
Bernd Hoppe 6.11.2018