19.08.2020 in der Tonhalle
Béla Bartók
Violinkonzert Nr. 1
Jacques Ibert
Divertissement
Francis Poulenc
Sinfonietta
Um es gleich vorwegzunehmen: Ein Besuch in der Tonhalle-Maag ist trotz steigender Infektionszahlen mit dem Coronavirus sicher. Dank eines umfasenden, ausgeklügelten Schutzkonzepts kann man bedenkenlos Konzerte besuchen, man kommt in keiner Phase anderen Besuchern zu nahe: Getrennte Zu- und Ausgänge zur rechten und zur linken Saalhälfte, Abstandsmarkierungen, Maskenpflicht beim Betreten des Gebäudes (auch während des Konzerts!), Desinfektionsmittelspender allüberall und eine Beschränkung auf maximal 460 (von 1224) besetzte Sitze, wobei streng darauf geachtet wird, dass die Schachbrettverteilung eingehalten wird (auch Paare sollten sich daran halten!). Und doch blieben an diesem Abend einige der 460 möglichen Plätze leer. Dabei war doch überall zu lesen gewesen, wie wichtig Kultur sei, wie sehr man sich wieder nach Live-Erlebnissen sehne. Was hielt die Leute vom Besuch dieses Konzertes ab? Die Eintrittspreise können es nicht sein, werden doch die Plätze zum Einheitspreis von 65 Franken verkauft (das Lucerne Festival verlangte kürzlich 290 Franken …), die Hälfte dessen was sie sonst kosten. Ok, die Programme sind auch etwas kürzer gehalten (aber unwesentlich), Pausen gibt es nicht. Mit der Geigerin Lisa Batiashvili und dem Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Paavo Järvi standen zwei absolute Top-Interpreten des Klassikmarktes auf dem Podium und das Programm mit Werken von Ibert, Bartók und Poulenc war ausgesprochen interessant und bewegte sich abseits ausgetretener Pfade. Wer es verpasst hat, könnte heute Donnerstag (allerdings mit Mozarts Sinfonie Nr.29 anstelle von Poulencs Sinfonietta) oder am Freitag nochmals in den Genuss dieses spannenden Abends kommen.
Einen Einstieg in die neue Saison kann man sich erfrischender als mit Iberts DIVERTISSEMENT kaum vorstellen. Welch schmissige, vor Einfällen nur so sprudelnde, überschäumende Musik hat Ibert da aus seiner Bühnenmusik zu einer Komödie von Labiche in einem sechssätzigen Stück destilliert: Rasante Passagen des Blechs, Triumphmärsche, Verulkungen des Mendelssohnschen Hochzeitsmarsches, Abstiege in mystische, düster grummelnde Sphären, perlende Klavierkaskaden und Seitenhiebe auf kakophone, atonale Kompositionen von Zeitgenossen, herrlich schmachtende Walzer, Salonmusik und Militärfanfaren – insgesamt ein atemberaubendes, amüsantes Stück Unterhaltungsmusik, auf höchstem Niveau komponiert und mit mitreissender Spielfreude vom Tonhalle-Orchester Zürich interpretiert, unter der augenzwingkernden (aber natürlich äusserst präzisen) Leitung von Paavo Järvi, der am Ende auch mit der Trillerpfeife versuchte, Ordnung in das ausser Rand und Band zu geratene Spiel zu bringen und damit erst die gelbe, dann die rote Karte von den Schlagzeugern gezeigt bekam und so die Sache beendete. Herrlich!
Eine ganz und gar anders geartete Komposition stand als nächstes auf dem Programm: Bartóks Violinkonzert Nr.1. Der neun Jahre vor Ibert geborene Komponist war im Alter von 25 Jahren unsterblich in die Wundergeigerin Stefi Geyer verliebt und widmete ihr ein zweisätziges Werk für Solovioline und Orchester. Geyer nahm die handschriftliche Partitur entgegen, setzte sich aber bald in die Schweiz ab und vertraute die Noten erst kurz vor ihrem Tod Paul Sacher in Basel an, der das Werk dann (13 Jahre nach Bartóks Tod) zur Uraufführung brachte. Bartók jedoch verwendete grosse Teile seiner musikalischen Ideen für sein Komposition DEUX PORTRAITS, op.5. Lisa Batiashvili stellte die fast schmerzhaft aufsteigenden Terzen der Solovioline mit wunderbar sauberer Intonation in den Raum, liess ihren Klang später, wenn sie nach und nach durch die Streicher des Orchesters umspielt werden, mit fantastischer Klarheit über dem Orchesterklang schweben, Man war sofort in den Bann dieser zum Teil noch dem spätromantischen Duktus verschriebenen Musik gezogen. Das Orchsters schraubte sich zu einem erotisch gefärbten Orgasmus hoch, die Solovioline erinnerte mit einnehmend süssem Klang nochmals an das Terzenmotiv, dann verklang dieser erste Satz. Im zweiten stand dann ganz die Virtuosität der Solovioline (und damit der von Bartók angebeteten Stefi Geyer) im Vordergrund. Schnelle Läufe, energische, ja manchmal beinahe trotzige Passagen wurden von Lisa Biatiashvili mit stupender Sicherheit vorgetragen, manchmal schien sie sich listig wie eine Schlange in den Orchesterklang zu schleichen, wunderbar präzise vom Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvis unaufgeregter, klarer Führung begleitet. Wogend und rasant steuerte der in Sonatenform komponierte Satz aufs Finale hin – Riesenapplaus für die Ausführenden.
Zum Schluss des Programms dreier beinahe gleichaltriger Komponisten (nur 18 Jahre trennen den ältesten, Bartók, vom jüngsten der drei, Francis Poulenc) erklang die Sinfonietta von Poulenc. Was für eine wunderbare Musik, von der der Komponist selbst einmal gesagt haben soll: „Analysieren Sie meine Musik nicht, lieben Sie sie.“ Und wirklich, das sind Klänge zum Verlieben. Spätromantische, klassizistische, ja manchmal gar jazzige Einflüsse verschmelzen sich mit einer ganz eigenen Klangraffinesse zu einem neuen Ganzen, es ist ein Eintauchen in einen Wohlklang, dessen Gesanglichkeit in eindringlichen Atembögen Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester mit Eleganz und ruhigem Fluss zum Erklingen brachten. Wunderschöne, warme Streicherkantilenen (insbesondere der Celli), innige Holzbläser, traumhaft sauber gespieltes Horn, verzaubernde Arpeggien der Harfe waren zu vernehmen, dazwischen gekonnt orchestrierte Einschübe, die an Elgars Pomp and Circumstance erinnerten.
Paavo Järvi und sein Tonhalle-Orchester Zürich nahmen die Zuhörer mit auf eine eindrückliche und lohnende Entdeckungsreise in die viel zu selten gespielte musikalische Welt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kaspar Sannemann, 23.8.2020
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