Als 2003 im Rahmen der umstrittenen ZDF-Show „Unsere Besten“ der größte Deutsche gewählt werden sollte, landete ausgerechnet Konrad Adenauer auf dem 1. Platz. Der Kanzler, der sich 11 Jahre vor Beginn der Auschwitzprozesse offiziell für ein Ende der Entnazifizierung einsetzte, hatte bereits spätestens 1955 den Gedanken an eine Wiedervereinigung aufgegeben (der christlich geprägte Sozialist Rudi Dutschke hielt übrigens bis zu seinem Tod im Jahre 1979 an der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten fest).
Der antisemitische Reformator und Bauernfeind Martin Luther landete auf Platz 2, der Autor des „Kommunistischen Manifests“, Karl Marx, wurde mit dem dritten geehrt. Da darf man schon froh und dankbar sein, daß vor dem großen Verhinderer der deutschen Demokratie und Kriegstreiber, Otto von Bismarck (Nr. 9), tatsächlich Johann Sebastian Bach der sechste Platz zugestanden wurde.
Kann es denn eine andere Wahl für den ersten Platz als denjenigen geben, der, jenseits der Gefahr von Projektionsflächen, nationaler Aspekte oder massiver Charakterfehler, der ganzen Menschheit eine Kunst geschenkt hat, die über alle Grenzen von Zeit, Regionen und sozialen Schranken hinweg wirkt, vereint, tröstet und in Staunen versetzt? Eine Musik, die trotz ihrer Verankerung im evangelischen Christentum Menschen aller Religionen verbindet, weil es hier um etwas größeres als um Konfessionen oder Glaubensvorstellungen geht.
„Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen, wegen seines unendlichen unausschöpfbaren Reichthums von Toncombinationen und Harmonien“, schwärmte Beethoven und charakterisierte so das universal Gültige von Bachs Werk, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts im unverdienten Dornröschenschlaf lag, bis vor allem Felix Mendelssohn-Bartholdy eine längst überfällige Bach-Renaissance einläutete.
Da denkt man so als Musik-Rezipient des 20./21. Jahrhunderts, daß das Monument Bach schon immer marmorn zumindest inmitten der europäischen Kultur stand und angemessen verehrt wurde. Daß dem beileibe nicht so ist und daß der große Meister auch noch in gesetztem Alter alles andere als unangefochten war, belegt Jörg Handsteins Hörbiographie „Bach – Die Geheimnisse der Harmonie“, die dieses Jahr erschienen ist. Die vier CDs vermitteln in bewährter Weise als Nr. 13 der Reihe des Bayerischen Rundfunks Bachs Vita, Lebensumstände und – vor allem in dieser Darstellung unverzichtbar – musiktheoretische Hintergründe, die in verständlichen Worten und durch gut ausgewählte Musikbeispiele den Zugang zum Genie dieses Komponisten eröffnen.
Einen Teil der musikalisch-familiären Vorgeschichte erzählen klanglich zwei Beispiele von Johann Christoph Bach, einem Großcousin Johann Sebastians; hier erstrahlt eine frühbarocke Festlichkeit, die an Monteverdi erinnert.
Ein erneutes Mal ist Udo Wachtveitl der Erzähler; wie in früheren Produktionen bezwingt seine charmante, humorvolle Art ebenso wie seine Gabe, dunklere Kapitel auch dieses Künstlerlebens entsprechend erlebbar zu machen.
Mit dem Jenenser Schauspieler Albrecht Schuch gewann man einen Bach-Sprecher, dessen thüringische Dialekt-Färbung ausgesprochen authentisch und lebendig wirkt. Dagegen wundert man sich etwas über den offenbar niederbayrischen Hintergrund des Schulbuben Bach, den Adam Gaigl verkörpert – wenngleich er die Zitate mit sympathischer Natürlichkeit wiedergibt.
Zahlreiche weitere Zitate, gesprochen von Anna Greiter, Stefan Hunstein, Shenja Lacher, Florian von Manteuffel und Katja Schild sorgen für das nötige Zeitkolorit. Gerade die verächtlichen Äußerungen des Kritikers Johann Adolph Scheibe muten angesichts der Größe von Bachs Werk jämmerlich kenntnislos an – auch zur Entstehungszeit dürfte kein wirklicher Musikkenner Bachs Kompositionen, denen angeblich „die Schönheit der Harmonie [entzogen]“ ist, „ein schwülstiges und verworrenes Wesen“ attestiert haben. Wer kennt heute schon Herrn Scheibe? Bach kennt jedes Kind von Kanada bis Korea.
Auch Bachs verschiedenen Dienstherren möchte man heute am liebsten ins Gesicht springen für ihr Verkennen und Behindern eines genialen Tonschöpfers – vielleicht tun sie im Jenseits Abbitte, wenn die himmlischen Chöre „Jauchzet, frohlocket“ anstimmen.
Für Redaktion und Regie war Bernhard Neuhoff verantwortlich, während Michael Krogmann und Daniela Röder Tonregie und Technik besorgten – auch dies ist ein bewährtes Team, das bisherige Produktionen professionell realisiert hat.
Musikalisch abgerundet wird die Biographie durch die Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (BWV 225, Chor des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Howard Arman) und die berühmte Orchestersuite Nr. 1 C-Dur (BWV 1066). Gerade letztere erstrahlt, gespielt vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Giovanni Antonini, in festlicher Leichtigkeit.
Auch für Bach-Experten bietet diese Hörbiographie neue Einblicke in ein anstrengendes und dabei so produktives Leben; für diejenigen, die bisher nur seine Musik kannten, ist es ein gelungener Einstieg in die Hintergründe seines Schaffens.
Andreas Ströbl, 2. September 2023
Bach – Die Geheimnisse der Harmonie.
Eine Hörbiographie von Jörg Handstein.
4 CDs
BR-KLASSIK 900936
Erhältlich im Handel und im BR-Shop