Bayreuth: „Opernarien von Carl Heinrich Graun“, Festival Bayreuth Baroque

Wie ich schon in Zusammenhang mit der gestrigen Aufführung von Händels „Flavio“ im Markgräflichen Opernhaus bemerkte: Eine Barockoper ist bisweilen „aktueller“ als eine Oper des 19. oder 20. Jahrhunderts, ja: auch einer der großen Mozart-Opern. Das macht: die meist unverstellte Primitivität der Affekte, die zumal in den Arien ausgedrückt werden. Ein „Figaro“ ist daher wesentlich schwerer ins Heute zu bringen als nur irgendeine „Barockoper“ (über den Terminus müsste man sich nochmal länger unterhalten), und dies nicht obwohl, sondern weil die Gefühle, die sie transportiert, meist unvermischter sind als Vieles, was nachher auf die Musikbühnen kam. Viele Inszenierungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass es gar nicht so schwer ist, unter dem Pomp und köstlichen Plunder des 18. Jahrhunderts all das zu entdecken, was uns noch am Musiktheater interessiert, wenn wir es denn in seiner psychologischen Tiefe Ernst nehmen – nur, dass das Interessante in den meisten Meisterwerken des 18. Jahrhunderts an der Oberfläche versteckt wurde. Das sog. „Regietheater“ (horribile dictu!) hat dafür gesorgt, den Werken der Vergangenheit auch szenisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wobei eine weitere Paradoxie ins Auge fällt: Es sind nicht unbedingt die „modernen“ Aufführungen, die uns das gleichsam Zeitlose eines „Flavio“, „Artaserse“ oder „Poro“ begreifen lassen. Es sind oft die historisierenden Interpretationen, die uns das Immerneue einer „Barockoper“ emotional wie intellektuell spüren lassen.

© Christine Schneider

Was bedeutet dies alles für einen rein konzertanten Abend, in dem einige Arien und Ouvertüren ausnahmslos eines Meisters der Oper dargebracht werden? Eine Reihe von Arien, abgelöst von ihrem dramatischen Zusammenhang, könnte zumal dann leicht zur Ermüdung führen, wenn sie aus den Händen eines einzigen Komponisten stammen, der zudem vom ästhetischen Willen seines königlichen Auftraggebers abhängig war. Carl Heinrich Graun heißt der Mann, im Opernhaus waren bislang nur zwei Schöpfungen in toto von ihm zu hören: Zuletzt sein „Orfeo“, der hier vor vielen Jahren als Gastspiel der Musikfestspiele Potsdam in Bayreuth Einzug hielt, was allerdings dazu angetan war, alle Vorurteile, die man damals noch gegenüber einem damals fast vergessenen Komponisten hegen konnte, zu beseitigen. Denn das Sentiment und die dramatische Inbrunst, alles in den Grenzen der friderizianischen Hofoper, die eine Hofoper des Rokoko war, überwältigte damals schier den Hörer. Schon zu Beginn der 80er Jahre setzte mit der Ausgrabung des „Montezuma“ im Preußenjahr 1981 die Wiederentdeckung des Mannes ein, der die Berliner Hofoper Friedrichs II. wie kein Zweiter dominierte; die Produktion war vor 40 Jahren dann auch in Bayreuth zu sehen – also an dem Ort, an dem sich Friedrichs Schwester Wilhelmine ihr heute einzigartiges Opernhaus hatte bauen lassen. Beide Werke und Interpretationen bewiesen schlagartig, dass es mit der herkömmlichen Meinung, dass Graun vor allem die zurückhaltenderen Arien bevorzugt hätte, weil der König sie besonders mochte, nicht weit her war. Anders sieht es mit der im Programmheft des diesjährigen „Bayreuth Baroque“ fixierten These aus, dass Graun vielleicht in die Musikgeschichte eingegangen wäre, wäre sein 1755 an der Spree uraufgeführter „Montezuma“ nicht vom sieben Jahre später produzierten „Orfeo“ eines gewissen Gluck in Sachen „Reformoper“ übertrumpft worden. Tatsache ist, dass Graun seinerzeit neben Hasse der meistgespielte Komponist am preußischen Opernhof war – und dass er, alles in allem, in seinem Stil den Wegen folgt, die ihm der „caro Sassone“ Hasse, der Superstar der Opera seria, bereitet hatte.

Auch das Konzert mit dem Counter Valer Sabadus und dem {oh!} Orkiestra unter der Leitung der Primgeigerin Martyna Pastuszka beweist nicht unbedingt das Gegenteil, auch wenn man in Grauns Arien mehr „Natur“ als in orthodoxen Darbietungen einer Hasseschen Prunkarie zu entdecken meint. Am Ende entscheidet eh die Interpretation – sie ist, nur bezogen auf die Instrumentalstücke des Programms, von größter Freiheit gegenüber manchen Notentexten. Die Ouvertüre zur „Rodelinda“ bringt nicht allein die Partitur, wie sie uns vorliegt, zuim Sprechen, sondern erlaubt sich mit einem zarten Zwiegespräch zwischen einigen wenigen Violinen und der Laute (hier sitzt wieder Axel Wolf, ein beliebter Bayreuther Dauergast, am zweiten Instrument) sowie mit einem ausgiebigen Solo des Cembalos (Anna Firlus ist wesentlich mehr als ein schlichtes b.c.-Mitglied) reizvollste Variationen, von denen ein Graun nur geträumt hätte. Gleiches geschieht in der Ouvertüre zu einem „Adriano in Siria“, deren Text per se interpretiert werden muss. Das {oh!} Orkiestra wirft sich mit Verve – und unendlicher Delikatesse in die unendlich lyrischen Passagen, die es der trockenen Vorlage entnimmt. Damit aber agiert es „werktreu“, obwohl es ein „Werk“ in unserem positivistischen Sinne weder damals noch heute gibt (denn auch ein Wagner, Strauss oder Henze muss und wird immer wieder anders gespielt werden). Das Einzige, was im ersten Konzerteil noch stört, sind die Hörner, die mit erstaunlicher Nonchalance ihre Naturtöne in den Saal blasen. Erst im zweiten Teil klingen sie so, wie sie klingen sollten: nicht schräg, sondern einfach harmonierend mit den Holzbläsern und Streichern.

Valer Sabadus aber singt seine acht Arien aus der „Rodelinda“, dem „Artaserse“, dem „Adriano in Siria“, dem „Demofoonte“, dem „Alessandro e Poro“ und dem späten, reifen „Montezuma“ mit Grandezza, vokaler Ausdauer, pausenloser Stimmschönheit und einem hohen reinen Ton, der es begreiflich macht, dass man sich im 18. Jahrhundert unter Göttern und Helden zeitlos jugendliche Idealfiguren vorstellte. Große Variationen des Stimmklangs gibt es nicht – doch wo sie begegnen, lassen sie aufhorchen. Sabadus beherrscht das lyrisch Versenkende wie das dramatisch Aufgewühlte, ohne allzu oft in den Überaffekt zu fallen: also ganz im Sinne des Auftraggebers all dieser Werke, die das königliche Herz so erfreuten. Sabadus‘ Stimme schwebt über den zauberhaft wiegenden Triolen einer Arie aus der „Rodelinda“, „Fonte ch‘accresci l‘onda“ beschreibt eine Quelle, die durch die Tränenflut des Helden beständig zunimmt – wir hören es und begreifen, was „barocke Klangrede“ ist. Ebenso „smooth“ kommt „Misero pargoletto“ aus dem „Demofoonte“ daher. Wieder ist es das Orchester, das durch seine Klangzaubereien Grauns Gewand unendlich verschönert. Wo die Trommelbässe sich durch eine Arie perkussiv durchziehen (wie in „Quest‘ o Dio lugubre aspetto“ aus der „Rodelinda“) und „düstere Erscheinungen“ die Stimmung des Sängers beherrschen, wird die andere Seite der Graunschen Medaille gezeigt. Drama und Lyrik: das sind die beiden Pole der barocken Seria-Pracht, die mit Graun einen Meister gefunden hat, der nicht herausragend sein mag, aber durch die liebevolle Weiterführung des Orchesters und die Ernsthaftigkeit, mit der sich Sabadus diesem einstigen Großmeister der späten Seria widmet, an Größe gewonnen hat.

Starker Beifall für einen nur scheinbar beschränkten Konzept-Abend, der ganz nebenbei zeigt, wo der schließlich alles überstrahlende Komponist der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also Mozart, anfänglich herkam: von seinen großen Ahnen. Auch in diesem Sinne blieb Graun aktuell.

Frank Piontek, 9. September 2023


Festival Bayreuth Baroque
Markgräfliches Opernhaus, 8. September 2023

Carl Heinrich Graun: Opernarien

Valer Sabadus, Counter
{oh!} Orkiestra
Leitung: Martyna Pastuszka