Jolanta – Wie man Blinde zum Sehen bringt.
„Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können“ – so wünschte sich der Komponist den idealen Stoff für eine Oper einmal. Jolanta ist nun nicht gerade sein bestes, obwohl sein letztes Werk. Tschaikowskys problematische Oper beruht auf einem Libretto seines Bruders Modest nach der Dramenvorlage des dänischen Schriftstellers Henrik Hertz.
Es geht um die Königstochter Jolanta, die seit ihrer Geburt blind ist und diesen Zustand demgemäß als ganz natürlich empfindet. Die Liebe zu dem Grafen de Vaudémont lässt in ihr verspätet den Wunsch aufkeimen, das Augenlicht zu erlangen – ein Wunsch, der am Ende auch in Erfüllung geht. Die Geschichte spielt, kurz umrissen, in einer Art geschütztem Dornröschengarten mit Blumen, in dem das Mädchen jahrelang von der Außenwelt abgeschottet leben muss, bis ein Wunder geschieht und sie wieder sehen kann. Es ist leider kein Lohengrinsches Wunder, denn es findet hinter der Bühne statt – nur einer von vielen dramaturgischen Schwachpunkten des Werkes.
In Gelsenkirchen steht dieser Garten, kreisrund in der Mitte der Bühne von öden holzgetäfelten Wänden im Halbrund umgeben auf einem halbmeterhohen Podest (Bühne Julia Schmittger) – für Blinde äußerst unglücklich gebaut, nämlich ohne Zaun. Aber intuitiv fällt unsere Blinde nicht herunter, sonst wäre die ohnehin kurze Oper noch früher zu Ende gegangen.
Dankenswerterweise lässt es die Regie (Tanyel Sahika Bakir) nicht im Behandlungszimmer eines Psychotherapeuten oder in der Gummizelle spielen – auch ein Pubertätstrauma ist es wunderbarerweise nicht. Es gibt auch keine Videoprojektionen oder Filmchen – Danke!
Die Kostüme (Hedi Mohr) passen zu den ersten 45 musikalischen Minuten der Ödnis und Langeweile – seit „Dune“ wissen wir ja, dass man in der Wüste am besten in an Taucheranzüge erinnernder Kampfkleidung überlebt. Ansonsten: schrecklich, schrecklich… So einfallslos, wie uninspiriert deprimierend, so hässlich wie fantasielos. Das ändert sich bei Le Rossignol in ein optisch und farblich erfrischendes Kaleidoskop des Märchenhaften. Also bitte nicht in der Pause gehen! Es wird noch richtig toll, auch für die Augen und Sinne. Es folgt eine grandiose Oper, für die sich alleine der Besuch unbedingt lohnt!
Fazit erster Teil: Jolanta empfinde ich persönlich als Tschaikowskys schwächstes Bühnenwerk, da er bewusst alles vermied, was nach Opernkonvention aussehen mochte. Leider wurde keine moderne Oper daraus. Die ersten 45 Minuten in trübem Moll langweilen und wenn es dann Dur-mäßig lebendig wird, ist die Oper fast zu Ende und man hat irgendwie das Gefühl, dass der Komponist nur noch im Sinn hatte, das Werk dann schnell zu Ende zu bringen. Zuviel, zuviel… für die letzten 30 Minuten. Unfertig unter Zeitdruck?
Zur alleinigen Aufführung mit gut 80 Minuten recht kurz. Daher wurde die Oper 1892 am Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg als Auftragswerk zusammen mit dem Ballett Der Nussknacker uraufgeführt. Tschaikowsky wusste wohl um die dramaturgische Schwäche des Stücks.
Dennoch: Highlights vorhanden. So gibt es eine gewaltige Schlussapotheose gleich zweimal. Die erste und schönste nach 65 Minuten, wenn die Prinzessin (noch blind) und Ritter im Liebesduett ihr Glück besingen – da hätte die Oper für mein Empfinden enden sollen. Leider endet sie aber erst 12 Minuten später, wenn alle zusammen eine Art finalen Choral anstimmen. Dann ist Jolanta auch sehend.
Insgesamt eine passable Ensemble-Leistung. Bei Dirigent Rassmus Baumann war Tschaikowskys in besten Händen – und auch die Neue Philharmonie Westfalen brachte einen dichten Tschaikowsky-Klang mit sporadischem Bläserleuchten und akzeptablem Rubato-Klang. Viel gibt die Partitur ja nicht zum Strahlen her, leider…
Vorzüglich präsentierte sich der von Alexander Eberle einstudierte Chor, dessen darstellerische Qualität in dieser Produktion eher statuarischer Natur war.
Jolanta ist eine Opernausgrabung, die zu Recht für die Bühne des Musiktheaters vergessen ist. Allerdings ein akzeptables Stück fürs Konzertante, insbesondere bei Festspielen, in dem große teure Sänger brillieren können.
Le Rossignol – ein 40-minütiges Kleinod
Gesanglich von unfassbaren Schwierigkeiten – vor allem für die Hauptrolle. Wer kann ein dreigestrichenes d im Piano sauber singen? Auch sonst ist die Partie höllisch. Lisa Mostin bringt diese Wahnsinnspartie scheinbar klaglos und unangestrengt über die Bühne – das ist so bemerkenswert, wie beeindruckend. Brava!
Auch sonst erblüht, ganz im Gegensatz zum ersten Teil des Abends, nun die Bühne in fröhlichen Farben, und die grandiose Kostümvielfalt von Hedi Mohr wird zur Augenweide. Regisseurin Kristina Franz kann mit dem Stück viel, vor allem Phantasiereiches anfangen. Durch einfaches Verschiebung der Kulissen entsteht lebendiges Musiktheater. Hier stimmt alles. Glanzpunkt und das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem „i“ ist der Moment, wenn Julia Schnittger (Bühne) herrliche Lampions hereinschweben lässt, die am Anfang wirken wie die echten chinesischen Himmelslaternen. Da leuchtet er kurz auf – der wunderbare Zauberkasten Opernbühne.
Das Ganze ist, auch musikalisch, eine 100-prozentig gelungene Produktion. Unbedingt ansehens- und anhörenswert.
Leider stirbt der König entgegen der Originalgeschichte. Dies ist vermutlich dem Gedanken geschuldet, dass man irgendwie das Puppentheater (vorzügliche Kunst von Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma, Maximilian Teschemacher) so besser einbauen konnte. Sinn ergibt es nicht, aber sieht mächtig gut aus, wenn der über drei Meter hohe Tod den Körper des Königs mit seinen riesigen Pranken bedeckt.
Fazit:
Großes Lob an das Musiktheater im Revier für diese mutige Auswahl und Zusammenstellung fern des Üblichen und Immergleichen. Das MiR bleibt, was es seit den 45 Jahren, in denen ich es regelmässig besuche, immer schon war: Ein Leuchtturm im Umfeld des düsteren Kohlenpotts*.
Peter Bilsing 25. Februar 2024
* Persönliches PS:
Das war natürlich Ironie! Denn weder trifft der Begriff Kohlenpott noch zu, noch ist dieser düster heutzutage. Im Gegenteil: Nur wenige Orte haben so viel Grünland, auch im Umfeld, zu bieten wie Gelsenkirchen. Aus den Industrieanlagen sind Kulturdenkmäler geworden, und für Radfahrer ist es ohnehin ein Paradies, auch wenn man nicht die legendären alten umgebauten, sensationellen Eisenbahntrassen benutzt.
Jolanta
Peter Tschaikowsky
Regie: Tanyel Sahika Bakir
Le Rosignol
Igor Strawinsky
Regie: Kristina Franz
Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen
Premiere: 25. Februar 2024
Musikalische Leitung: Rassmus Baumann
Neue Philharmonie Westfalen