Wenn man von Musicals spricht, denkt man automatisch zuerst an die großen Produktionen. Vielleicht Starlight Express, Les Miserables oder die ganzen Disney-Werke. Dabei ist dieses Genre so vielfältig, dass man abseits der großen und sicherlich sehenswerten Blockbuster immer wieder ganz besondere Perlen entdecken kann. Eine dieser Perlen ist das Musical Ein Wenig Farbe, welches bereits 2018 an der Wiener Theatercouch Premiere feierte.
Das Stück erzählt die Geschichte von Helena, die 47 Jahre lang als Klaus gelebt hat. Nun liegt Helena im Krankenhaus und ist vor der für morgen früh geplanten geschlechtsangleichenden Operation so nervös, dass sie nicht einschlafen kann. Deshalb erzählt sie der Krankenschwester von ihrem bisherigen Leben. Dabei begleitet der Zuschauer Helena durch die verschiedenen Erinnerungen. Seien es die Gespräche mit ihrem Psychotherapeuten, ihre heimliche Liebe zu ihrem Mitschüler David Steiner oder die Besuche bei ihrer inzwischen an Demenz erkrankten Mutter. Besonders eindringlich sind jedoch die Passagen, in denen es um ihre Selbstfindung geht. Als Klaus 13 Jahre alt war, hatte er sich eines Abends heimlich das Kleid seiner Mutter ausgeliehen und sich geschminkt. Doch die Eltern kehrten früher als erwartet heim, die Mutter war entsprechend entsetzt und der Sohn bekam drei Wochen Hausarrest. Auch sein Vater sprach zu dieser Zeit immer davon, dass richtige Männer Sport treiben, also fügte sich Klaus und wurde nicht nur ein erfolgreicher Sportler, sondern auch ein recht erfolgreicher Anwalt. Doch auch im Beruf stößt seine geplante Operation auf wenig Verständnis, was schließlich zur Auflösung des langjährigen Arbeitsverhältnisses führt. Und dann ist da noch seine Ehefrau Caroline, mit der er inzwischen zwei Söhne hat. Missverständnisse, Enttäuschungen oder auch die Frage, ob man all die Jahre Teil einer Lüge war oder einfach etwas übersehen hat, führen dazu, dass Caroline die Scheidung einreicht. Auch der älteste Sohn will von seinem Vater nichts mehr wissen. Obwohl sich Helena und Klaus als Persönlichkeiten kaum unterscheiden, brechen immer mehr Freunde den Kontakt ab. Neben der Einsamkeit werden im Zuge der Geschlechtsumwandlung auch alltägliche Kleinigkeiten zu echten Problemen: Welche Toilette soll man während der langen Anpassungsphase aufsuchen in einer Gesellschaft, die in festen Normen gefangen zu sein scheint?
All diese Themen werden mit viel Fingerspitzengefühl und Tiefgang behandelt, wobei das Musical keine politischen oder gesellschaftlichen Diskussionen auslöst, sondern einfach die Geschichte von Helena erzählt, die den Zuschauer mitfühlen lässt, die aber auch immer wieder sehr schöne Momente bereithält. Rory Six als Autor, Komponist und Regisseur des Stückes ist hier ein wunderbares Musical-Juwel gelungen, das die Gefühlswelt Helenas treffend in Musik umsetzt. Passend dazu immer wieder das gelungene Zusammenspiel von Klavier und Geige. Abgerundet wird das vierköpfige Orchester durch Cello und Gitarre, wobei Rory Six am Klavier bei der besuchten Aufführung die musikalische Leitung übernahm. Dass dieses Musical so sehr unter die Haut geht, liegt wohl auch daran, dass Rory Six bei der Entwicklung des Stückes von Sophie Giller unterstützt wurde, die viele eigene Erfahrungen aus ihrer sechs- bis siebenjährigen Transitionszeit in das Stück einfließen ließ und es so zu einem Musical aus dem wahren Leben macht. Timo Verse schuf für den Abend ein schlichtes Bühnen- und Kostümbild mit wenigen, geschickt platzierten Requisiten, die der eigentlichen Geschichte sehr dienlich sind.
Ein größeres Bühnenbild ist auch gar nicht nötig, denn der Star des Abends ist eindeutig Helena, in diesem Fall verkörpert von Mark Seibert. Neben Helena bzw. Klaus verkörpert Seibert noch zwölf weitere Rollen in Helenas Erinnerungen, was ihm wunderbar gelingt. Der Übergang vom Gedanken in die jeweilige Rolle gelingt stets nachvollziehbar und obwohl Ein wenig Farbe als Musical-Monolog für einen Darsteller oder eine Darstellerin beworben wird, ist dieses Musical viel mehr ein Dialog mit dem Publikum, das in der Rolle der Krankenschwester die Suche Helenas nach ihrem wahren Selbst hautnah miterleben kann. Dass dieses sehr interessante Stück Musiktheater Ende Oktober auch an der Musikalischen Komödie Leipzig Premiere feiern wird, ist sehr erfreulich, denn dieses Musical hat es verdient aufgeführt zu werden. Noch immer fristen Musicals mit ernsteren Themen eher ein Schattendasein an den vielen Theatern des Landes. Abschließend sei an dieser Stelle noch kurz auf das Interview verwiesen, das der Opernfreund vor wenigen Tagen mit Rory Six führen konnte und in dem dieser als Autor des Werkes noch einmal auf einige Besonderheiten von Ein wenig Farbe eingeht. Das Publikum im fast ausverkauften Club des Capitol Theaters spendete bei diesem Gastspiel der Theatercouch in Düsseldorf zu Recht allen Beteiligten großen Applaus für einen ganz besonderen Theaterabend.
Markus Lamers, 15. September 2024
Ein Wenig Farbe
Musical-Monolg von Rory Six
Capitol Theater (Club), Düsseldorf
Besuchte Vorstellung: 14. September 2024
Inszenierung: Rory Six
Musikalische Leitung: Rory Six