Kontrapunkt: „Warum, zum Teufel, soll ich Carmen bewundern?“

Feministinnen (und Regisseurinnen, die Feministinnen sind) gehen angesichts der Figur von Carmen vor Bewunderung in die Knie. Was für ein freier Geist sie ist! Ungebärdig! Unbezähmbar! Stolz und mutig gegen die Männerwelt! So etwas könnte doch glatt Präsidentin werden!

Dank an unseren Hauszeichner Peter Klier

Sehen wir doch einmal genau hin. Dass Carmen keine Lust hat, Zeit ihres Lebens (wie es Unterschichtsfrauen tun müssen, die mit ehrlicher Arbeit ihr Geld verdienen) in der Fabrik Zigaretten und Zigarren zu drehen, kann man ihr nachfühlen. Da ist es leichter, mit ihren kriminellen Schmuggler-Freunden loszuziehen. Nichts dagegen zu sagen, wenn die freiheitsliebende Carmen nebenbei nicht noch ein völlig gewissenloser, egozentrischer; brutal zerstörerischer Mensch wäre.

Da ist Don José, ein einfacher Soldat, der nichts anderes möchte, als seinen Dienst ordentlich zu versehen. Der seine Micaela heiraten will, die er liebt und die ihn liebt und die ideale Frau für ihn wäre. Und außerdem sorgt er sich darum, dass es seiner Mutter gut geht. Kein aufregendes Lebenskonzept, aber ein ehrenhaftes, das drei Menschen glücklich machen würde.

Carmen benützt diesen armen Pinsel, um sich aus dem Gefängnis zu befreien und lockt mit erotischer Belohnung. Als er ihr nachhoppelt, zerstört sie sein Leben, ohne sich eine Sekunde den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie da tut. Sie reißt ihn aus seinem Beruf, zwingt ihn in ein kriminelles Leben, löst ihn von seiner Familie los. Und die Belohnung wird über kurz oder lang brutal verweigert. Don José hat nichts mehr – nicht einmal die vermeintliche Liebe von Carmen, für die er alles aufgegeben hat…

Nun bin ich die Letzte, die sagt, Carmen geschähe recht mit dem Tod durch Don Josés Messer (obwohl der englische Spruch: She asked for it, nicht ganz unangebracht ist). Ich wäre heilfroh, wenn der arme Mann auf ihr- sie ist ja so ehrlich! – „Ich liebe Dich nicht mehr“ (samt verächtlich hin geschmissenen Ring), sich umdrehte, „Dann nicht, Madame“ sagte, Micaela suchte und mit dieser anderswo ein neues Leben begänne.

Was wäre dann mit Carmen? Eine Zeitlang dürfte sie als Escamillos Geliebte fungieren, bis er sie austauscht gegen eine, die „jünger und schöner ist“ als sie, denn er ist als Macho noch stärker als sie als Freigeist. Dann ist sie irgendwann eine Frau mittleren Alters ohne besonderen Reiz, und schließlich eine hässliche Alte, die froh sein muss, wenn ihr jemand ein Stück Brot gibt – denn sie ihrerseits hat in ihrem ganzen Leben noch niemandem etwas Gutes getan.

Was also soll ich an Carmen bewundern? Und wie kommt Lotte de Beer auf ihr „Präsidentinnen“-Niveau (nicht einmal in einer vagen „Freien Republik“, mit der Milo Rau das Festwochen-Publikum gefoppt hat, ohne genau zu sagen, was das eigentlich sein soll)?

Ich lese mit Interesse, nicht nur, weil es mein Beruf ist, die Interviews, die Regisseure vor der Premiere geben. Es sind geschwurbelte Erklärungen, die zeigen sollen, wie hoch intellektuell und innovativ man sich mit dem jeweiligen Thema auseinandergesetzt hat. Von den Absichtserklärungen sieht man im Allgemeinen auf der Bühne gar nichts.

Aber… aber dann kommen die Kritiker. Und wie diese sich verbiegen, aus oft wirklich – na, sagen wir, skurrilen Vorgaben Konzepte zu erkennen und zu bejahen, das geht auf keine Kuhhaut. („Endlich sind Hanna und Danilo alt!“ schrieb jemand angesichts der unsäglichen Volksopern-Interpretation. Warum, bitte, sollen die beiden Falten-Greise sein? Hat das etwas mit dem Stück zu tun?)

Renate Wagner 28. September 2024

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