CD-Kritik: „Le Roi d’Ys“, Édouard Lalo

Kann man sich in Opern verlieben? Gewiss. Man kann sich ja nicht allein in einer Oper verlieben. Manchmal sind es nur einige Details, die einen dazu bringen, sich dem Ganzen mit sozusagen liebender Sorgfalt zu widmen.

So geschah’s mit Édouard Lalos Le Roi d’Ys . Da gibt es, als Beginn des dritten Akts, eine Szene, die einen sensiblen Opernhörer sofort zu packen vermag, auch wenn er zuvor schon im Ton Ähnliches – nicht Gleiches – vernommen hat. Ein Brautchor tritt auf, ein Brautpaar wird mit einem folkloristischen Brauch gefeiert und in das Brautgemach eingeführt. Was dramaturgisch an den Lohengrin anklingt, wie daneben noch einige wenige Figuren und ihre Konstellationen, ist musikalisch doch von einem anderen Planeten – und dies nicht allein deshalb, weil der Komponist sich einiger bretonischer Volksmelodien bedient hat. Die Musik klingt einfach anders zauberhaft ins Ohr, denn Lalo war kein Wagnerianer, zumindest kein musikalischer. Brahms hätte gesagt: Dass die Geschichte des Königs von Ys, aus weiter Ferne betrachtet, Ähnlichkeit mit der 40 Jahre zuvor komponierten Oper hat, merkt jeder Esel. Dass Lalos Oper nun beim auf die französische Musik spezialisierten Label Palazzetto Bru Zane eine Neuaufnahme erfuhr, liegt also an ihr selbst, nicht an der Tatsache, dass die gute Rozenne ein wenig Elsablut und ihre „böse“ Schwester Margared stellenweise eine Verwandte der Ortrud zu sein scheint, während ihr kurzzeitig pragmatischer Verbündeter Karnac vorübergehend den Telramund grüßt. Der König selbst, der die unwichtigste Rolle einnimmt, obwohl er die Titelfigur ist (was an der Ursage des Plots, nicht am Plot selbst liegt), ist in diesem Sinn ein Bruder König Heinrichs. Ansonsten hat sich der Librettist Édouard Blau an einer bretonischen Legende orientiert, um sie im Sinne einer historistisch-sagenhaften Oper des späten 19. Jahrhunderts dem Vergnügen eines Publikums dienstbar zu machen, das die Vergegenwärtigung pseudomittelalterlicher nationaler Stoffe spannend und in amourös-gewalttätigen Konflikten wie des Roi d’Ys sein Vergnügen fand. Da soll ein Heiratsabkommen zwischen zwei verfeindeten Völkern geschlossen werden, doch die für die Brautpolitik vorgesehene Tochter des Königs, die impulsive Margared, weigert sich, den zu versöhnenden Gegner Karnac zu heiraten, weil Mylio, der Geliebte ihrer sanftmütigen Schwester Rozenne, den auch sie begehrt, unversehrt aus dem Krieg heimkehrt. Statt sich in ihr Schicksal zu fügen, schlägt sie die Hand Karnacs aus, provoziert einen neuen Krieg, tut sich mit dem überlebenden Unterlegenen Karnac zusammen, mit dem sie das Schleusentor öffnen will, das die tödliche Meeresflut in die Stadt hineinlässt. Der Stadtheilige Corentin warnt sie: Wenn sie nicht Reue zeige, geschehe ein Unglück. Karnac aber lässt sich nicht beirren; am Ende versinkt die halbe Stadt in den Fluten, und die unglückliche und wahnsinnig gewordene Schwester stürzt sich, reumütig und der Forderung nach Sühne gehorchend, als wäre sie eine wiedergeborene Senta, in die Fluten. Der Heilige erscheint schließlich, um die Entsühnung zu verkünden. Großes Chorfinale.

Lalo hat einige Jahre gebraucht, um seiner am Ende gut 100 Minuten langen Oper die rechte Gestalt zu geben. Eine Erstfassung, die bereits zehn Jahre vor der Uraufführung im Salle du Châtelet der Pariser Opéra-Comique, genauer: 1878 in Angriff genommen wurde, wurde nach der Fertigstellung 1881 vom Komponisten so tiefgreifend revidiert und gekürzt, dass er aus dem zunächst wagnerisch angehauchten Musikdrama eine, wie er sagte, „echte Oper“ machte; dass, wie David Charlton es in Roger Parkers Illustrierter Geschichte der Oper ausdrückte, hier wie in den verwandten Opern Hulda (César Franck), Gwendoline (Emmanuel Chabrier), Fervaal (Vincent d’Indy) und Le Roi Arthus (einer Perle von Ernest Chausson), keine „befriedigende Balance von äußerer Form und innerem Gehalt“ gelang, ist eine Behauptung, die nicht bewiesen werden kann, vom Autor auch nicht bewiesen wird. Für die Produzenten des neuen Roi d’Ys ist das Werk nichts weniger als „einer der Ecksteine in der Entwicklung der französischen Oper im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts“, obwohl, wie der gute Theo Hirsbrunner in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters schrieb, die Fanfarenthematik „ausgesprochen konventionell“ wirke, in den Rezitativen das Orchester nur Halteakkorde spiele und die „Prosodie der Singstimmen jenes gesetzte Pathos“ zeige, das erst von Debussy überwunden worden ist. Trotzdem hört man, zum ersten oder wiederholten Mal, dem Werk doch mit Interesse zu, weil es Lalo vermochte, selbst mit einfachen Mitteln für jenes timbre zu sorgen, das eine Oper erst interessant macht. Für den Rest sorgen, siehe oben, die Chöre, die Soli, die Gegenspiele von Liebe und Hass, nicht zuletzt die Ouvertüre.

Der wie üblich (man muss das wie üblich sagen) sorgfältige und informierte Begleitband zur CD-Edition, der diesmal u.a. einen wertvollen Beitrag zu bretonischen Opernstoffen, ein auratisches Foto der Rozenne Nellie Martyl (Paris 1910; man findet es auch im Piper), einige Uraufführungs-Bilder und eine Uraufführungs-Rezension, auch Bühnenfotos von 1902 enthält – der Text des Buchs zur Edition räumt denn auch mit der Meinung auf, dass es ein Missverhältnis zwischen Form und Inhalt gebe. Er erläutert die Veränderungen, die in Musik und Konzeption des Roi d’Ys zwischen 1881 und 1888 stattfanden, soweit es angesichts der verlorenen Erstfassung möglich ist. Man erfährt, dass sich Einiges aus dem verlorenen Urstück in die Musik der Ouvertüre hinübergerettet hat und für die Neuaufnahme eine Glockenstimme orchestral rekonstruiert wurde, sodass den bereits vorliegenden Live- und wenigen Studio-Aufnahmen eine weitere an die Seite gestellt werden kann. Was spricht für sie? Oder anders: War sie angesichts der existenten Gesamtaufnahmen des Werks nötig?

Soweit es die Glockenstimme und das Orchester sowie den Chor betrifft: unbedingt. Das phänomenal schön und distinguiert aufspielende Hungarian National Philharmonic Orchestra und der Hungarian National Choir bieten unter der Leitung von György Vashegyi das Schönste der französischen Opernkultur von Anno 1888 auf: eine Musik, die sich formal an die Tradition hält, indem sie zu Gunsten des Motif de rappel auf das variierende Leitmotiv keinen Wert legt und in den Nummern ihr Genügen findet, ohne gänzlich auf eine schillernde Harmonik und symphonisch grundierte Strecken zu verzichten. Sie wurde, zwischen Sturm und Romanzenton, Drama und lyrischer Versenkung, Pathos und subtilité, zudem kostbar instrumentiert, und das Hungarian National Philharmonic Orchestra darf zeigen, wie gut und charakteristisch eine Partitur zu klingen hat, deren Schöpfer jahrelang an der Verschlankung der Mittel, an zärtlichen Melodien und ungestümen Emotionen gearbeitet hat.

In Rozenne und Margared, den beiden so verschiedenen Schwestern, findet die Oper ihr Zentrum, in der Besetzung bieten Kate Aldrich und Judith van Wanroij Einiges an Spannung und Entspannung auf. Als Begründung für die Neuaufnahme nennt der Herausgeber Alexandre Dratwicki u.a. die Ungleichmäßigkeit bisheriger Sängerbesetzungen, doch  Van Wanroijs Rozenn klingt etwas (!) einschichtig, erfreut den Hörer aber mit der Schönheit eines typischen und angenehm ausgeglichenen Rozenn-Tons, der eher auf das Gefühlige als das Erregte geht. Zu den emotional-vokalen Höhepunkten der Einspielung gehört denn auch das Margared-Rozenn-Duett des 1. Akts und die Hochzeits-Begegnung mit Mylio. Aldrich ist ihr ein authentischer Widerpart, der mit seinem dunklen Mezzo die dramaturgischen, weniger musikalischen „Ortrud“-Töne elegant und zwischenzeitlich exzessiv, doch nicht hyperventilierend, aussingt. Pointiert ausgedrückt: Ihre Stimme verfügt für die zwischen Ein- und Vielfalt oszillierende Rolle über eine Farbe, die sie vehement einsetzt. Auf der Männerseite sind Mylio und Karnac, also Cyrille Dubois und Jerôme Boutillier, das Kontrastpaar. Hier der Démi-timbre-Tenor Mylio, dem man in Dubois’ stimmlichem Gewand eher den Mann der tendresse als den zornig-enthemmten Krieger abnimmt, dort der potente Gegner, der bei aller Heftigkeit seine baritonalen Mittel beherrscht, um einen eindringlich-bilderbuchhaften Bösewicht zu porträtieren. Ironischerweise ist es gerade Nicola Courjal, der Interpret der Titelpartie, der mit einem besonders schütteren Bass enttäuscht und die wesentlich besseren Vertreter dieser Rolle ins Gedächtnis ruft. Schade, aber er hat ja, alles in allem, nicht so viel zu singen wie ein Mylio, der schon durch sein beseeltes Vainement, ma bien-aimée zu prunken vermag.

Vergeblich, meine Geliebte? Wie gesagt: Man kann sich durchaus erfolgreich in eine Oper verlieben – wie den Roi d’Ys.

Frank Piontek, 16. Juni 2025


Édouard Lalo
Le Roi d’Ys

Palazzetto Bru Zane (Opéra français 43)

Hungarian National Philharmonic Orchestra