Leipzig, Konzert: „Brahms, Honegger“, Gewandhausorchester unter Jakub Hrůša

Leipzig – ein Zentrum europäischer Musikgeschichte

Bach, wohin man schaut. Schon in einer der Vorhallen des Hauptbahnhofs wird man von einem Sinfonischen Blasorchester mit seiner Musik empfangen. Der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach war und ist bis heute über die vergangenen Jahrhunderte ein Leitbild aller Komponistengenerationen. So nimmt es nicht wunder, dass auch das Programm des heutigen Grossen Concerts klug einen Bezug zu Bach herstellt. Seit 1950 findet in Leipzig im Rahmen des Bach-Festes der Internationale Bach-Wettbewerb für junge Solisten statt. Auch vor 75 Jahren steht das Konzert für drei Klaviere BWV 1063 auf dem Programm des Abschlusskonzerts. Bei der Aufführung übernimmt ein prominentes Jury-Mitglied einen Solopart: Dmitri Schostakowitsch. Er schreibt wenig später für Tatjana Nikolajewa, der Siegerin des Wettbewerbs, seine 24 Präludien und Fugen op. 87.

Johann Sebastian Bach (1685-1750): Konzert für drei Klaviere und Orchester d-Moll BWV 1063

Das Konzert wird eröffnet durch die Preisträger des diesjährigen Wettbewerbs: Jan Čmelja, Marek Kozák und Mariamna Sherling, junge Künstler, die bereits Sieger bedeutender internationaler Wettbewerbe sind und deren Karriere dabei erst am Anfang steht. Engagiert, trotzdem filigran und sensibel im Anschlag, den Partnern nötigen Raum lassend, von Jakub Hrůša und dem etwas üppiger besetzten Kammerorchester aufmerksam und sicher begleitet, gelingt eine wohltuende Balance zwischen den drei Solisten und dem Orchester. Allerdings kann ich nicht verhehlen, dass die Besetzung mit drei großen Steinway-Flügeln die Anwendung vieler Erkenntnisse einer historisch orientierten Aufführungspraxis nicht zulässt. Ein Cembalo bietet mit seinen Registern eine Vielzahl klanglicher Farben (2. Satz!). Wie schön wäre es gewesen, drei Cembali statt der drei Flügel zu hören. Das Orchester hätte in der Artikulation, Tongebung und Phrasierung auch auf modernen Instrumenten weitreichend individuellere Ausdrucksmöglichkeiten gehabt.

© Marian Lenhard

Das Konzert d-Moll gehört zu einer Reihe von Konzerten für ein Cembalo oder mehrere Cembali und Orchester, meist Parodien eigener Werke oder Umschrift von Kompositionen anderer Meister, die Bach in Leipzig für Aufführungen seines Collegium Musicum im Zimmermannischen Caffee-Hauß schrieb.

Auch das Konzert in d-Moll ist ein Solokonzert, aber für drei Solisten. Oft spielen die drei Instrumente den gleichen Notentext, dann gehen sie wieder ihren eigenen Weg. Eine Ausnahme ist der zweite Satz Alla Siciliana („à la barquarole“ s. Johann Mattheson). Hier übernimmt das erste Klavier eindeutig die Führungsrolle. Natürlich gibt es, wie bei Bach üblich, im abschließenden Allegro eine Fuge. Auch das dritte Klavier bekommt hier ein eigenes Solo. Unisono endet das Konzert. Felix Mendelssohn Bartholdy ist es zu verdanken, dass nach der Matthäus-Passion auch diese Komposition ihrem Jahrhundertschlaf entrissen wird.

Arthur Honegger (1892-1955): Sinfonie Nr. 2 H 153

Zur Gruppe der Les Six gehörend, ist der Schweizer Arthur Honegger eher ein Außenseiter, kompositorisch geht er seinen eigenen Weg. Als leidenschaftlicher Humanist und Pazifist besteht er darauf, dass er keine absolute Musik schreibe, seine Werke sind mit den Ideen und Geschehnissen der Wirklichkeit verbunden. So ist die 1941 im von der Hitler-Wehrmacht besetzten Paris komponierte zweite Sinfonie, ebenso wie später die Symphonie liturgique von 1945, eine ergreifende, tiefgründige Anklage gegen den Krieg. Die Sinfonie Nr. 2, Paul Sacher gewidmet, wird von ihm und seinem Collegium Musicum 1942 in Zürich uraufgeführt. Auf dem Werk, nur mit Streichern besetzt, erst am Schluss kommt eine Trompete hinzu, lastet eine bedrückende Stimmung. Im ersten Satz Molto moderato-Allegro entwickelt sich aus dem dunklen Beginn der tiefen Instrumente eine gebetsartige Dreitonfolge, die im weiteren Verlauf thematisch bestimmend wird für die Sinfonie. Die Solobratsche führt in ein Allegro, das, dramatisch aktiv, mit einem markanten Thema der Violoncelli beginnt, dann aber wieder in die Stimmung des Anfangs zurück findet. Eine ausgedehnte kantable Phrase der Violinen beschließt den Satz. Im Zentrum der Sinfonie steht das folgende Adagio mesto, elegisch klagend, Ausdruck des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit. Ein Thema in den Celli, ein kontrastierendes Thema der Violinen werden abgelöst von einer unruhigen Triolenfigur. Mit der Wiederkehr des Violinenthemas, einer großen gesanglichen Geste der Celli und letztlich mit der Solobratsche endet der Satz. Energisch und kämpferisch zeigt sich das Vivace, non troppo. Ein Thema in Bratschen und Celli, weiterentwickelt von den Violinen, ein zweites Thema der Violinen, ein Bratschenthema und eine Temposteigerung zum Presto führen zum Höhepunkt und Satzende. Ein Choral, intoniert von den ersten Violinen und der Solo-Trompete, „…nicht um einen gewollten Effekt zu erzielen, sondern einfach nur darum, eine Stütze zu erhalten für die in langen Noten einher schreitende Melodie der ersten Geiger, die sonst durch die Polyphonie der andern Instrumente mit gleicher Klangfarbe übertönt zu werden drohen!“ (Arthur Honegger) setzt ein Zeichen der Zuversicht und Hoffnung auf Befreiung und Frieden. Besonders mit dem letzten Satz seiner zweiten Sinfonie schlägt Honegger eine Brücke zu Johann Sebastian Bach.  

Arthur Honegger, am 10. März 1892 in Le Havre als Sohn Schweizer Eltern geboren, erhält früh Violinunterricht und beginnt schon als Jugendlicher zu komponieren. Ein in Zürich begonnenes Studium in Violine und Musiktheorie setzt er am Pariser Conservatoire fort, erweitert seine Ausbildung noch um die Fächer Dirigieren und Komposition. Mit seiner ersten Komposition, dem Ballett Le Dit des Jeux du monde löst er 1918 einen Skandal aus, ist aber auf diese Weise schnell der Öffentlichkeit bekannt. Er wird Mitglied der Groupe des Six um Milhaud und Poulenc, bleibt aber immer in Distanz zu deren offizieller Ästhetik. 1923 gelingt Honegger mit Pacific 231, der musikalischen Darstellung einer Eisenbahnfahrt mit einer Dampflokomotive, der internationale Durchbruch. Er ist jetzt ein viel beschäftigter und gefragter Komponist, Dirigent und Liedbegleiter, in allen musikalischen Genres zuhause. In seinen Werken bedient sich Honegger der verschiedensten Techniken, er verarbeitet Gregorianik, barocke Elemente (sein großes Vorbild ist Bach) bis zum Jazz und der Zwölftontechnik. Von einschneidender Bedeutung ist für ihn der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und 1940 die Besetzung der Stadt Paris. Während seine Werke in Deutschland nach 1933 nicht mehr aufgeführt werden, stehen sie in Frankreich immer wieder in den Konzertprogrammen. Auch das ist für Honegger, der der Resistance sehr nahe steht, eine Form des Widerstands. Nach dem Ende des Kriegs wird er Mitglied der Kunstakademien in Belgien, Frankreich und den USA und Ehrenmitglied der International Society for Contemporary Music. 1953 wird er zum Offizier der Französischen Ehrenlegion ernannt. Arthur Honegger stirbt am 27. November 1955 in seiner Wahlheimat Paris.

Nach seinem Tod wird ihm eine besondere Ehre zuteil: eine Briefmarke der deutschen Bundespost ziert 1982 sein Konterfei. Die Schweizer Nationalbank will dem nicht nachstehen und gibt 1996 eine 20-Franken-Note mit seinem Abbild heraus.

Johannes Brahms (1833-1897):  Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Johannes Brahms, am 7. Mai 1833, in Hamburg als Sohn eines Kontrabassisten geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er bekommt früh Unterricht in Klavier und Musiktheorie, spielt in Hamburger Fischerkneipen zum Tanz auf und trägt damit zum Unterhalt der Familie bei. Er begleitet den ungarischen Geiger Eduard Remény bei Konzerten. Durch ihn lernt er den berühmten Joseph Joachim kennen, der lebenslang Freund, Kritiker und Ratgeber sein wird. Für ihn komponiert Brahms 1878 sein Violinkonzert. Im September 1853 trifft er in Düsseldorf Robert Schumann. Dieser erkennt Brahms´ geniale Begabung und schreibt in der von ihm herausgegebenen Neuen Zeitschrift für Musik unter dem Titel Neue Bahnen: „Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: Das ist ein Berufener.“. Mit Clara Schumann und den Kindern verbindet ihn auch nach dem Tod ihres Mannes zeitlebens eine tiefe Freundschaft. Für die Kinder der Familie schreibt er sein berühmtes Wiegenlied „Guten Abend, gut´ Nacht. Nachdem ihn die Heimatstadt bei der Wahl eines Leiters der Städtischen Singakademie und des Philharmonischen Orchesters zweimal übergeht, arbeitet er kurz am Fürstenhof in Detmold. 1862 zieht es Brahms für immer nach Wien. Dort kann er seit Mitte der siebziger Jahre gänzlich von und für seine Arbeit als Komponist, Dirigent und Pianist leben. Allgemeine Wertschätzung hat er sich längst mit dem ersten Klavierkonzert, mit den beiden Orchesterserenaden und vor allem mit dem Deutschen Requiem erworben. Joseph Joachim und Hans von Bülow, Leiter der Meininger Hofkapelle, helfen bei der Durchsetzung seiner Werke. Der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick macht ihn gegen seinen Willen zur Führungsperson bei Kampagnen gegen Wagner und gegen Bruckner. Dabei ist Brahms keinesfalls fortschrittsfeindlich. Arnold Schönberg sieht später in dessen Kompositionsweise eigene Prinzipien vorweg genommen und nennt ihn den Fortschrittlichen. Johannes Brahms stirbt am 3. April 1897 in Wien.

© Eric Kemnitz

Erst nachdem er herrliche Werke für alle Gattungen der Kammermusik, Chor- und Orchestermusik geschrieben hat, wagt sich Brahms an die Sinfonik. Innerhalb von weniger als zehn Jahren komponiert er seine vier großen Sinfonien. Die Vierte op. 98 in e-Moll entsteht in den Sommermonaten der Jahre   1884 und 1885. Brahms selbst dirigiert die erfolgreiche Uraufführung am 25. Oktober 1885 in Meiningen. Ihm ist früh bewusst, dass diese Sinfonie die Hörer in bisher nicht gekannter Weise fordern werde, ein Reichtum an unterschiedlichen Strukturen steht einem weit gespannten musikalischen Bogen gegenüber. Der erste Satz Allegro non troppo folgt dem klassischen Schema der Sonatensatzform. Das Hauptthema, bestehend aus einer Folge absteigender Terzen und dann wieder aufsteigender Sexten, zwischen Dur und Moll schwankend und mehrfach variiert, bestimmt den ersten Satz. Abgelöst durch ein aufbegehrendes zweites Thema, werden beide dann in der Durchführung miteinander konfrontiert. Die Vergrößerung des Hauptthemas führt in die Reprise, zunächst wie ein Ruhepunkt, mündet sie aber in eine breit angelegte, dramatische Coda. Durch die Kombination der Grundtonart E-Dur mit der  phrygischen Kirchentonart erhält der zweite Satz Andante moderato einen äußerst spannungsreichen Charakter. Das rhythmisch punktierte Hauptthema leitet zum ruhigen zweiten Thema der Streicher. Ausdrucksmäßig erregte Abschnitte führen wieder in die elegische Grundstimmung des Satzes zurück. Es folgt ein Allegro giocoso, ein raues, fast grobes Scherzo von unwirschem Charakter. Auch der Einsatz der Triangel hilft da nicht. Das statt eines Trios eingeführte zweite Thema nimmt die Energie des Anfangs auf, der Satz endet laut und turbulent. Das barocke Passacaglia-Modell, einer musikalischen Entwicklung über einer ostinaten, immer wiederkehrenden Bassfigur ist Vorbild für den vierten Satz Allegro energico e passionato. Brahms entwickelt eine Folge von 30 Variationen von grandioser Wirkung, die nach einem ruhigen Mittelteil mit dem Eintritt in die Reprise dramatisch düster in e-Moll endet.

Richard Strauss äußert sich begeistert: „Ein Riesenwerk … neu und originell und doch von A bis Z ein echter Brahms!“.

Wurde Johannes Brahms von der Nachwelt zunächst als konservativ verstanden, ändert sich die Rezeption hin zum Bild des progressiven Erneuerers. Die höchstmögliche Konzentration einer umfassenden thematisch-motivischen Arbeit, die Motivabspaltungen und rhythmischen Veränderungen sind schon Hinweise auf die Zweite Wiener Schule.

Jakub Hrůša, 43 Jahre alt, Erster Gastdirigent des Londoner Philharmonia Orchestra und der Tschechischen Philharmonie, Chefdirigent der Bamberger Sinfoniker und ab 2025 auch von Covent Garden, ist ein vielversprechender Künstler auf dem Weg steil nach oben. Auf seine Entwicklung dürfen wir sehr gespannt sein. Mit sauberer Schlagtechnik, gesangliche Passagen liebevoll führend, sorgt er für einen entschlackten, durchsichtigen Klang. Bei einem Orchester dieser Klasse hätte ich ihm allerdings, vor allem bei Brahms, oftmals den Mut gewünscht, den Musikern mehr Luft zu geben.

Die Violinen meistern die extremen Schwierigkeiten der Honegger- Sinfonie mit Bravour, das Solo-Violoncello tritt im zweiten Satz mit einem herrlichen Solo hervor. Die Solo-Trompete von Jonathan Müller fügt sich perfekt und ohne unangebrachten triumphalen Glanz in den Orchesterklang ein. Die Brahms-Sinfonie glänzt mit dem warmen Klang der Streicher. Die Holzbläser, herauszuheben sind Solo-Klarinette und Solo-Flöte, die Hörner (bis auf einen Ausrutscher im Beginn des zweiten Satzes) und vor allem die wunderbaren Blechbläser hatten ihren Anteil am verdienten Jubel des ausverkauften Hauses.

Bernd Runge, 22. Juni 2025


Johann Sebastian Bach: Konzert für drei Klaviere und Orchester d-Moll BWV 1063
Arthur Honegger: Sinfonie Nr. 2 H 153
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Gewandhaus zu Leipzig

20. Juni 2025

Jan Čmejla, Kavier
Marek Kozák, Klavier
Mariamna Sherling, Klavier
Jakub Hrůša, Dirigent
Gewandhausorchester Leipzig